20 Jahre zusammen: In zehn Mitgliedsländern wird dieser Tage das Beitrittsjubiläum zur Europäischen Union (EU) gefeiert. Die Zugehörigkeit mag nicht stets Grund zum Jubeln gewesen sein. Aber die Vorteile haben sich seither sowohl den alten wie den neuen Mitgliedern der Union erschlossen. Manche sprechen vom bisher größten außenpolitischen Erfolg der EU gewesen, dass am 1. Mai 2004 eine so große Zahl von Ländern entlang des früheren eisernen Vorhangs und im Mittelmeer aufgenommen worden sind – die sogenannte Osterweiterung.
Schon in den 1980er Jahren hatte die Aussicht auf einen Beitritt entscheidend dazu beigetragen, in Griechenland, Spanien und Portugal einen reibungslosen Übergang von der Diktatur zur Demokratie zu gewährleisten. In den späten 1990er Jahren hat die Perspektive die osteuropäischen Länder beim Übergang von der kommunistischen Zentralplanung zur liberalen Demokratie verändert. Die Länder des westlichen Balkans wurden ebenso dank ihrer Hoffnung auf eine EU-Mitgliedschaft stabilisiert. Selbst die Türkei nahm umfassende Veränderungen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft vor, bevor ihr Präsident die autokratische Wende vollzog. Seit dem Beitritt von Rumänien und Bulgarien 2007 und Kroatien 2013 bleibt noch die Erweiterung in Südosteuropa unvollendet.
Schon wenige Jahre nach der Beitrittswelle 2004 um Estland, Lettland, Litauen, Malta, Polen, Slowakei, Slowenien, Tschechien, Ungarn und Zypern zeigte eine Analyse der EU-Kommission, dass drei Altmitglieder am meisten davon profitierten, dass sie ihre Grenzen gleich für Arbeitskräfte aus Osteuropa öffneten: Großbritannien, Irland und Schweden. Andere Ländern optierten aus Furcht vor einer Schwemme „polnischer Klemptner“ für Übergangsfristen. Die neue Durchlässigkeit zeigte mit Abstand ihren Nutzen: Spaniens Exporte in die zehn Länder verdoppelten sich in 20 Jahren, Italiens Warenhandel legte um 77 Prozent zu. Intern wuchs der gesamte EU-Handel in weniger als zwei Jahrzehnten um 40 Prozent.
In diesen 20 Jahren ist die EU-Wirtschaft nach Angaben der EU-Kommission um 27 Prozent gewachsen. Von Tallin bis Lissabon, von Valletta bis Stockholm, von Dublin bis Nikosia: Für 450 Millionen Europäer und Unternehmer haben sich neue Möglichkeiten erschlossen. Der Zuwachs von zehn Mitgliedsstaaten, die zum Teil auch dem Nordatlantischen Verteidigungsbündnis (NATO) beitraten, hat global gesehen sowohl das ökonomische wie das geopolitische Gewicht der EU erhöht. Ein umfassender Binnenmarkt hat die Attraktivität des Wirtschaftsblocks als internationaler Handelspartner erhöht: Seit 2004 legte der internationale Handel der EU um 3 Billiarden Euro zu – auf 5 Billiarden Euro im Jahr 2023.
Wohlstandszuwachs der Neuen
Die Beitrittsländer haben auf vergleichbare wie auf unterschiedliche Weise von der Zugehörigkeit zu einem grenzenlosen gemeinsamen Markt für Arbeitskräfte, Güter und Kapital profitiert. Infrastruktur wurde modernisiert, EU-Fördergelder flossen in die Modernisierung von Wirtschaftszweigen. Nicht nur die Industrieproduktion stieg dank Zuwanderung etwa aus der Automobilindustrie, auch die landwirtschaftliche Produktion verdreifachte sich nach Wert auf mehr als 68 Mrd. Euro.
Löhne haben sich laut EU-Kommission in den 20 Jahren in den zehn Ländern real verdoppelt. Armut verringerte sich von 37 Prozent im Jahr 2005 auf 17 Prozent 2020. Sieben der Länder zahlen inzwischen mit dem Euro. Die durchschnittliche Lebenserwartung in den Staaten der Osterweiterung stieg von 75 auf 79 Jahre und holte damit den Abstand zum EU-27-Durchschnitt von 81 Jahren fast auf. Die jüngste Standard-Eurobarometer-Umfrage zeigte: Auch die Lebenszufriedenheit legte von 68 Prozent im Jahr 2004 auf 89 Prozent 2024 zu.
Wie stark die einzelnen Länder profitiert haben und wie die Lage 20 Jahre nach dem EU-Beitritt ist:
Diese Länder sind 2004 der EU beigetreten:
Den Beitrittstag 2004 begeht Polens Ministerpräsident Leszek Miller im deutsch-polnisch-tschechischen Dreiländereck bei Zittau mit dem damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) und dem tschechischen Amtskollegen Vladimir Spidla. Polen hat den größten Nutzen aus der EU-Osterweiterung gezogen – mit einer Verdoppelung des BIPs pro Kopf auf 14.750 Euro. Die Arbeitslosenrate sank seit 2012 von über zehn auf 2,8 Prozent. Heute zehrt das Land trotz der jüngsten Schocks infolge des Ukrainekriegs von einer gut diversifizierten Wirtschaftsstruktur, von guter Einbindung in regionale Wertschöpfungsketten, makroökonomischer Stabilität und einem soliden Finanzsektor. Der Arbeitsmarkt hat ein erhebliches Lohnwachstum und den privaten Verbrauch gefördert. Das Armutsrisiko ist mit am geringsten in der ganzen EU. Deutsche Unternehmen waren in Polen im Jahr 2021 mit rund 37 Mrd. Euro investiert.
Der Beitritt der Tschechischen Republik wurde wie hier am Grenzübergang Potucky an vielen Orten gefeiert. Tschechien sah der Mitgliedschaft hoffnungsvoll entgegen – mit erhöhtem Zugang zu Finanzmitteln, um die Wirtschaft zu modernisieren – was auch zu zahlreichen Korruptionsvorwürfen führte. Insgesamt ist der Wohlstand mit der Öffnung der Volkswirtschaft stark gestiegen. Zum Beispiel verdoppelte sich die tschechische Papierproduktion. Das reale BIP pro Kopf kletterte um rund 50 Prozent auf 18.370 Euro, verglichen mit knapp 29.000 Euro in der EU-27. Die Arbeitslosenrate in Tschechien wurde seit 2012 mehr als halbiert und lag 2023 bei 2,6 Prozent. Die Wirtschaft zeigt einen hohen Integrationsgrad in internationale Investitionen und Handel. Das Armutsrisiko ist mit 12 Prozent am niedrigsten in der EU.
Mit Unterstützung der EU-Fazilität „Connecting Europe“ wurde die Slowakei zum Bindeglied zwischen Polen und Mitgliedstaaten in Mittel- und Südosteuropa für neue Versorgungsquellen von Erdgas nach dem Ende der billigen russischen Pipeline-Importe. Die Slowakei trat bereits 2007 dem Schengen-Raum bei und 2009 der Eurozone. Das Land profitierte erheblich von der Öffnung zum Westen und von Kohäsionsmitteln der EU, die auch in die Modernisierung von Infrastruktur und Verkehrsmitteln flossen. So verdoppelte das Land z.B. seine Produktion von Metallen. Wie in anderen Ländern der Osterweiterung stieg die Arbeitslosigkeit zunächst nach 2004, in der Slowakei ging sie seit 2012 von 13,9 auf 5,8 Prozent zurück. Die Wirtschaft wuchs in den 20 Jahren um sieben Prozent jährlich im Durchschnitt. Das BIP pro Kopf stieg von 9360 auf 16.490 Euro.
Der Grenzübergang in Nova Gorica zu Italien wurde seit dem Beitritt nur während der Corona-Pandemie geschlossen. Dort feierten EU-Kommissionspräsident Romano Prodi und der damalige Premierminister Anton Rop den EU-Beitritt. Trotz anfänglicher Unsicherheit überwiegt in Slowenien heute die Gewissheit, dass die EU dem Land wirtschaftlichen Wohlstand und internationale Anerkennung gebracht hat – viele Bürger nutzten die Möglichkeit von Auslandsaufenthalten zum Studium oder Beruf. Schon 2007 führte das Land den Euro ein und trat dem Schengen-Raum bei. Wie andere osteuropäische Länder wurde Slowenien – teils mit attraktiven steuerlichen Lockangeboten – ein wichtiger Handelspartner und Lieferant von Gütern und Dienstleistungen der deutschen Industrie, unter anderem im Maschinenbau, der Automobilindustrie und der Elektrotechnik. In zwei Runden 2007-2013 und 2014–2020 erhielt das Land zweistellige Milliarden-Zuwendungen aus EU-Fonds für die wirtschaftliche Entwicklung. Die Arbeitslosenrate hat sich seit 2012 auf 3,7 Prozent mehr als halbiert, das BIP pro Kopf stieg von knapp 16.000 auf mehr als 22.000 Euro 2023.
Im Brüsseler Park Cinqantenaire treffen am Tag der Osterweiterung ungarische Marathonläufer mit Flaggen der neuen Beitrittsländer ein. Mit dem rechtsgerichteten und russlandfreundlichen Victor Orban an der Spitze machte sich Ungarn zuletzt als „Enfant Terrible“ der EU-27 wenig Freunde. Brüssel hielt wegen empfindlicher Einschränkungen des Rechtsstaats Mittel zurück. EU-Kommissarin Elisa Ferreira rechnete dem Land vor Kurzem vor, wie sehr es von der Mitgliedschaft profitiert habe: In 20 Jahren habe die Kohäsionspolitik aus diversen Töpfen 50 Mrd. Euro überwiesen – im Durchschnitt 5000 Euro pro Kopf, zum Nutzen von 70.000 Unternehmen und zur Schaffung von 90.000 Arbeitsplätzen. Ungarns Arbeitslosenrate hat sich von 10,7 Prozent 2012 auf 4,1 Prozent 2023 verbessert, das BIP pro Kopf real von 9520 auf 14.370 Euro. Das Armutsrisiko sank stark auf 18,4 Prozent.
Am 1. Mai 2004 wird vor dem Präsidentenpalast die EU-Flagge gehisst. Für das kleine Litauen war der Beitritt zur EU nach dem Ende des Kalten Kriegs ein willkommener Akt der staatlichen Konsolidierung – gleichwohl begleitet von Befürchtungen, die bürokratische Last der Angleichung an EU-Gesetze könnte erdrücken. Der wirtschaftliche Fortschritt hat dem Land im Baltikum geholfen, externe Schocks wie die Finanzkrise 2008, die Corona-Pandemie und den Ukrainekrieg besser abzuwettern, sagen Beobachter. Das BIP pro Kopf hat sich real seit 2004 auf 14.850 Euro 2023 verdoppelt, die Arbeitslosigkeit seit 2012 auf 6,5 Prozent mehr als halbiert.
Estland gilt nicht nur als Vorreiter in der digitalen Verwaltung, wie bei einem Digitalgipfel von Premierministerin Kaja Kallas und Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) 2022 gefeiert, sondern auch als Musterschüler in der Umsetzung europäischer Regeln – obwohl der Beitritt gegen eine anfänglich starke interne Euroskepsis vor allem der russischen Minderheit und der landwirtschaftlich geprägten Bevölkerung erfolgte. Als einziges Land neben Litauen setzte es EU-Zuwendungen aus der Kohäsionspolitik zur Integration in die EU in den vergangenen zehn Jahren vollumfänglich um. Der baltische EU-Staat hat sein BIP pro Kopf seit dem Beitritt 2004 um 50 Prozent auf 15.370 Euro gesteigert. Die Arbeitslosenrate sank in den vergangenen zehn Jahren von 9,9 auf 6,4 Prozent.
Der baltische Staat ist 20 Jahre nach seinem EU-Beitritt ein Baustein in der digitalen Resilienz-Strategie der EU. Im Rahmen des regionalen Projekts „Baltic Ring“, das Schweden und Finnland über eine glasfaserbasierte Route durch das Baltikum verbinden soll, wird Lettland für andere europäische Länder ein Bindeglied zur globalen Cloud, digitalen Diensten und internationalen Knotenpunkten. Lettlands Wirtschaft verzeichnete laut EU-Kommission seit dem Beitritt zur EU durchschnittlich eine jährliche Wachstumsrate von sieben Prozent. Das BIP pro Kopf stieg in der Zeit von 7340 auf 13.220 Euro. Die Arbeitslosigkeit fiel von zweistelligen Raten auf 6,5 Prozent 2023.
Vor der griechischen Botschaft in Nicosia halten Studenten eine Parade zur Unabhängigkeitsfeier Zyperns vom Ottomanischen Reich ab. Das Entwicklungsprogramm für Zypern hat in den letzten Jahren neben Infrastrukturhilfen einen besonderen Schwerpunkt auf die Wiederherstellung, Erhaltung und Verbesserung von Ökosystemen gesetzt, um die wirtschaftliche Entwicklung in ländlichen Gebieten und die Wettbewerbsfähigkeit des Agrar- und Ernährungssektors zu stärken. Die Ziele fügen sich ein in die Erhaltung der biologischen Vielfalt, eine bessere Wasserbewirtschaftung und die Vermeidung von Bodenerosion. Hunderte landwirtschaftliche Betriebe werden in ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit und Modernisierung unterstützt. Lag Zyperns Arbeitslosigkeit vor zehn Jahren noch bei knapp 12 Prozent, so war die Rate 2023 6,1 Prozent. Das BIP pro Kopf verbesserte sich seit 2004 auf 27.720 Euro.
Auch die maltesische Bauernschaft hat sich im Frühjahr an Protesten gegen die europäische Agrarpolitik beteiligt. Unter dem Strich hat Malta als EU-Mitglied aber an Bedeutung als kleiner Inselstaat im Mittelmeer gewonnen. Die Wirtschaftsleistung hat sich verdoppelt. Die Vernetzung hat zu einer stärkeren internationalen Beteiligung geführt, die Wirtschaft wandelte sich zunehmend in Richtung Dienstleistungen, während sich das verarbeitende Gewerbe auf höherwertige Tech-Produkte verlagert. Seit der Einführung des Euro hat Malta weniger mit den Risiken einer kleinen Währung zu kämpfen, das Defizit sank auf ein tragfähiges Niveau. Das BIP pro Kopf hat sich seit 2004 von 14.120 auf 25.160 Euro verbessert. Die Arbeitslosigkeit halbierte sich seit 2012 auf 3,1 Prozent.