Harold James lehrt an der Uni Princeton, doch zum Interview bittet er in den Internationalen Währungsfonds (IWF) in Washington. Er arbeitet dort die Geschichte des Fonds seit dem Jahr 2000 auf. Die Cafeteria hat schon geschlossen, aber ein Kaffee sei noch drin, sagt die Bedienung. „Toll, danke“, sagt der gebürtige Brite mit US-Pass – und nimmt einen Tee.
Herr Professor James, Ökonomen sind selten einer Meinung. In einem Punkt aber stimmen fast alle überein: Freier Handel ist gut. Doch in der Realität richtet diese Erkenntnis wenig aus. Wie erklärt das der Wirtschaftshistoriker?
Was Ökonomen sagen, ist, dass Freihandel im Saldo für die Volkswirtschaften gut ist. Doch die Gewinne daraus liegen oft in der Zukunft, es sind Versprechen, für die es Vorstellungskraft bedarf. Dagegen wissen die Verlierer genau, was und warum sie verlieren. Ihre Einbußen sind spürbar und schmerzhaft. Entsprechend reagieren sie.
Und deshalb gaukeln ihnen Populisten wie US-Präsident Donald Trump vor, die Vergangenheit bewahren zu können, und zetteln einen Handelskrieg an?
Die Verlierer sind oft konzentriert auf bestimmte Bereiche. In den USA sind das sozial schwache ländliche Regionen, wo viele alte Leute leben, die nicht mobil sind. Die Politik hat Instrumente, um sie zu entschädigen. Aber diese Hilfen sind zu kleinkarätig, um die Verluste aus der Globalisierung auszugleichen.
Sie haben sich intensiv mit dem Zusammenbruch des Welthandels in den 30er-Jahren beschäftigt. Den Anfang machte der Smoot–Hawley Act, mit dem die USA Importzölle verhängten. Ist Trump der Smoot–Hawley des 21. Jahrhunderts?
Smoot–Hawley war zunächst gar nicht als massive protektionistische Maßnahme gedacht. Herbert Hoover hatte in der Präsidentschaftswahl 1928 versprochen, etwas gegen die fallenden Agrarpreise zu unternehmen. Nach der Wahl aber begannen die Abgeordneten im Kongress, die speziellen Interessen ihrer Wahlkreise draufzusatteln. Es war wie ein Schneeballsystem. Am Ende kam etwas heraus, was Hoover nicht gewollt hatte.
Nämlich Rekordzölle der USA auf 20.000 Produkte, flächendeckende Vergeltung der Handelspartner und eine globale Rezession. Wiederholt sich die Geschichte?
Das kann sich wiederholen. Aber noch sind wir nicht so weit. Die Historiker sind heute nicht mehr der Ansicht, dass Smoot–Hawley die Weltwirtschaftskrise ausgelöst hat. Aber das Gesetz hat einige Branchen massiv geschädigt. Es kam zu einer Destabilisierung von Banken, daraufhin wurden Devisenbeschränkungen verhängt, das schadete der Wirtschaft massiv. Die wirklich protektionistischen Maßnahmen folgten dann 1931 und besonders 1932 nach der Finanzkrise.
Trump will den Import von Stahl und Aluminium einschränken, Strafzölle auf chinesische Produkte verhängen und droht der deutschen Autoindustrie. Die Chinesen haben mit Gegenmaßnahmen reagiert, und auch die EU will sich das nicht gefallen lassen. Ist die Spirale nicht längst im Gang?
Bisher beschränken sich die Maßnahmen auf sehr spezielle Bereiche. Die Chinesen haben diese komische Liste vorgelegt, die Amerika Stiche versetzen und Trump-Wähler in den ländlichen Regionen treffen soll. Es wird Verhandlungsmasse geschaffen. Das gab es auch früher. Die Kennedy-Administration war in den 60er-Jahren eine der großen Liberalisierer, aber sie hat den „Chicken War“ mit Europa geführt …
… der Handelsbeschränkungen Deutschlands für amerikanisches Hähnchenfleisch mit Zöllen auf den VW-Bus vergalt.
Ja. Und der sehr wirtschaftsliberale Ronald Reagan hat gegen Japan einen Zollkrieg eingeleitet , weil die USA fürchteten, von Billigautos überschwemmt zu werden. Trumps Handelsbeauftragter Robert Lighthizer kommt aus der Regierung Reagan. Er denkt, mit China sei es genauso wie damals mit Japan. Das ist es, was mich wirklich besorgt. Nie während früherer Handelskonflikte stand die Verteidigungsgemeinschaft zwischen den USA und Europa oder die strategische Allianz mit Japan in Zweifel. Mit China ist das anders. China und die USA sind militärische Wettbewerber. Wir bräuchten China als Partner, etwa im Nordkoreakonflikt. Trumps Handelspolitik unterläuft dies. Seine Zölle haben eine strategische Dimension, die gefährlicher ist als in der Vergangenheit.
Ab wann lässt sich eine Eskalation nicht mehr stoppen?
Trump bewegt sich bislang vor und zurück. Es gibt Widerstand von US-Unternehmen, die fürchten, dass ihnen diese Konflikte schaden. Aber die gefühlten Schmerzen vieler Wähler gegenüber China sind ein Faktor in der amerikanischen Politik. Gleichzeitig wollen Konsumenten billige T-Shirts und Elektronik. Es fällt auf, dass Trump solche Produkte (er zieht ein iPhone aus dem Jackett) außen vor gelassen hat.
Also ist das letzte Wort noch nicht gesprochen?
Trumps Handelsminister Wilbur Ross hat gesagt: „Selbst Militärkriege enden mit Verhandlungen.“
Wie soll Europa reagieren? Mit Gegenschlägen oder Stillhalten?
Dafür gibt es die Welthandelsorganisation WTO. Wenn man vernünftig miteinander verhandelt, kann das Ergebnis für alle Seiten gut sein. Aber man braucht einen Rahmen, in dem die Konflikte gelöst werden. Deswegen ist es so alarmierend, dass Trump die Ernennung von Richtern zum WTO-Berufungsgericht blockiert. Das schmälert meine Zuversicht, dass ein Handelskrieg vermeidbar ist.
Haben Handelskriege wirklich nur Verlierer, wie es oft heißt?
Nein. Im Konflikt mit Reagan hat sich Japan auf freiwillige Exportbeschränkungen für seine Kleinwagen eingelassen. Es hat dann in die USA zwar keine billigen Autos mehr verkauft, aber dafür teure. Dieser Effekt war unbeabsichtigt, aber gut für die japanische Autoindustrie.
Sind die Amerikaner traditionell die Schurken in dem Spiel?
Nein. Und Protektionismus ist nicht immer schlecht. Als Reichskanzler Otto von Bismarck 1879 Stahl- und Getreidezölle einführte, war das sinnvoll. Die Landwirte waren die klaren Verlierer der ersten Globalisierungswelle der Moderne. Viele Länder haben damals moderate Zölle verhängt. Diese Art Schutzmechanismus hat die Globalisierung erst möglich gemacht.
Aber jetzt wird sie von Kritikern von links wie rechts bestürmt.
Auch da gibt es Parallelen in der Geschichte. Aber im Grunde geht es um eine Verteilungsfrage. Früher waren rechte Parteien die, die weniger umverteilen wollten, und linke Parteien die, die mehr umverteilen wollten. Heute sind die Möglichkeiten für Umverteilung sehr begrenzt. Wer wirklich umverteilen will, muss verhindern, dass sich Menschen, Güter und Kapital über Grenzen bewegen können.
Heißt das, Ungleichheit durch Globalisierung ist unvermeidbar?
Weltweit gesehen ist sie dank der Globalisierung gesunken. Millionen Menschen sind aus der Armut gekommen. Aber innerhalb der Staaten gibt es diesen Effekt. Ich glaube, dass die Gesellschaften das womöglich eher aushalten würden, wenn es nicht mit sozialer Missachtung verbunden wäre. Diejenigen, die Trump, Brexit oder AfD gewählt haben, fühlen sich als dumm dargestellt. Sie empfinden das als einen Mangel an Respekt, und bei den Wahlen kommt das hoch.
Verdankt die Liberalisierung ihren schlechten Leumund auch der Tatsache, dass sich kaum ein Politiker traut, dafür einzustehen? Hillary Clinton gab sich im Wahlkampf fast so handelskritisch wie Trump.
Ja, aber es gibt Gegenbeispiele. Die Vision des französischen Präsidenten Emmanuel Macron ist nicht völlig frei von der französischen Tradition des Protektionismus. Aber sie vereint das Ziel der Offenheit mit der Notwendigkeit, Industrien gegen den Diebstahl geistigen Eigentums zu schützen.
Trotzdem ist der Protektionismus weltweit auf dem Vormarsch.
Die Globalisierung ist ins Stottern geraten, aber nicht im Rückwärtsgang. Es stimmt, seit 2012/13 wächst der Welthandel weniger als die globale Produktion. Das liegt aber auch daran, dass die digitalen Technologien eine dezentrale Produktion erlauben. Übrigens gibt die Statistik bislang keinen Trump-Effekt her: 2017 war das erste Jahr seit der Finanzkrise, in dem mehr handelsfördernde als handelshemmende Maßnahmen beschlossen wurden.
Aber meist sind das bilaterale Verträge. Die Handelstheorie sagt, dass es der Weltwirtschaft mehr schadet als nutzt, wenn zwei sich zulasten eines Dritten einigen.
Diese Debatte ist sehr alt. Als in den 50er-Jahren die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft gegründet wurde, kritisierten viele Ökonomen, dies leiste dem Regionalismus und Protektionismus Vorschub. Denn es wurde eine Zoll-außengrenze geschaffen – und für Deutschland kam im Schnitt eine Zollerhöhung raus. Danach aber hat sich die Welt in den Sechzigern stark dem Multilateralismus zugewandt.
Ist es das, was Sie meinen, wenn Sie sagen, dass Globalisierung in Wellenbewegungen verläuft?
Ja. Seit einigen Jahren gibt es wieder einen Trend weg vom Multilateralismus. Die Doha-Handelsrunde ist gescheitert, weil die Differenzen zwischen den Industrienationen und den Schwellenländern einfach zu groß waren. Aber daraus könnte ein neues Muster erwachsen: Wenn sich große Regionen zu Freihandelsregionen entwickeln, wäre das eine neue Basis für eine globale Welt, die miteinander Handel betreibt.
Deutschland wird wegen seiner Handelsüberschüsse nicht nur von Trump kritisiert. Kann diese ökonomische Dominanz gut gehen?
Deutschland verdankt seine heutigen Exporterfolge der schnellen Industrialisierung der Schwellenländer während der Finanzkrise. Deutsche Unternehmen sind in bestimmten Sektoren traditionell stark. Der Maschinenbau zum Beispiel. Aber man sollte nicht meinen, dass diese Märkte ewig bestehen.
Das Problem löst sich, weil Deutschland seine Führung verliert?
Ja. Wie die Zukunft des Autos aussieht, ist völlig offen. Innovationen in Deutschland entstehen traditionell, indem die alten Produkte verfeinert werden. Mit radikalen Neuerungen dagegen hat man Probleme.
Deutschland profitiert sehr stark von der Globalisierung. Aber auch hier fürchten viele Menschen, dass Billigimporte und Zuwanderer sie ihre Jobs kosten.
Die Immigrationsdebatte ist meines Erachtens das größte Risiko für die Globalisierung. Ich sehe die Gefahr, dass es zu einer Welle des neuen Nationalismus kommt, der niemandem hilft und sehr viel Schaden anrichten wird.
Was folgt, wenn die Staaten die Zuwanderung weiter einschränken?
Schauen Sie nach Japan. Die Bevölkerung überaltert, keiner investiert, die Banken finden keine Kreditnehmer. Migration kann solche demografischen Verwerfungen lösen. Und sie ist eine Quelle von Innovation und Dynamik. Viele der heute erfolgreichen Unternehmen der USA wurden von Migranten gegründet.
Ausgerechnet aber dem Einwanderungsland USA scheint das Bewusstsein dafür unter Trump abhandenzukommen.
Ja, absolut. Dabei geht es, wenn von den „forgotten men“ die Rede ist, um Regionen, in denen kaum Immigranten leben. Wo Latinos leben, ist die Wirtschaft dynamischer und die Gesellschaft sozial stabiler. In Großbritannien wurde vor 30 Jahren darüber geklagt, dass es an den Schulen in London oder Birmingham bergab ging. Heute haben die Schulen Probleme, wo keine Einwanderer leben.
Aber mit dem Brexit haben die Briten das Konzept offener Grenzen aufgekündigt.
Ich glaube eher, dass viele Engländer damit gerechnet haben, dass die EU auseinanderbricht, und dem zuvorkommen wollten. Aber so ist es nicht gekommen. Eine Lehre aus den 30er-Jahren ist, dass die Welt neben internationalen Institutionen auch große Länder braucht, die sich dem Gemeinwohl verpflichtet fühlen. Früher waren das die USA. Vielleicht führen Trump und Brexit dazu, dass die Europäer erkennen, dass ihr Zusammenhalt nicht nur für sie selbst, sondern auch für die Ordnung der Welt notwendig ist.
Trumps Handelspolitik könnte Europa zusammenschweißen?
Ja. Ohne Trump wäre Macron nicht denkbar. Diese selbstbewusste Orientierung auf Europa ist neu. Es ist auch gut, dass Europa nun nicht mehr nur als Merkel wahrgenommen wird. Ich glaube, dass Trump den Enthusiasmus für Handelsliberalisierung bei vielen in Europa oder auch Afrika neu anfachen wird.
Ein guter Effekt dank Trump?
Wie bei Mephisto. Die Kraft, die stets das Böse will und das Gute schafft. Nicht, dass ich Trump mit Mephisto vergleichen wollte (lacht).