Wenn im Juni die EU-Bevölkerung zur Wahl geht und zum zehnten Mal das Europäische Parlament wählt, entscheidet sich, welchen Weg die Union künftig einschlägt. Auch wenn das EP bis heute keine Regierung wählen kann, ist es bei vielen Fragen dennoch mächtiger als viele der nationalen Parlamente in den 27 Mitgliedstaaten. Diese Erkenntnis ist längst in anderen Hauptstädten der Welt angekommen. Und entsprechend groß ist die Verlockung, auf Europas Urnengang Einfluss zu nehmen. Es gibt drei wesentliche Möglichkeiten, auf schädliche Weise Einfluss zu nehmen:
- Bürger könnten über Desinformationskampagnen manipuliert oder verunsichert werden
- Angriffe auf Wahlsysteme oder Übermittlungssysteme von Wahlergebnissen könnten die Ergebnisse verzerren oder für Verunsicherung sorgen
- Einflussnahme auf oder durch politische Akteure
Vor allem zwei der Einfallstore gelten als potenziell heikel für die EU.
Desinformation: Reale Probleme werden instrumentalisiert
Jakub Janda, Direktor des European Values Center for Security Policy in Prag, erwartet „massive, maßgeschneiderte russische Desinformationskampagnen, die real existierende intern europäische soziale und politische Probleme thematisieren, um prorussische Politiker zu unterstützen“.
Online-Desinformationskampagnen prägten bei EU-Offiziellen in den vergangenen Jahren immer wieder den Blick auf mögliche Einflussnahme. Weshalb es den Verhandlern wichtig war, mit dem Digital Services Act zumindest den größten Plattformen in der EU einige Vorschriften zur Bekämpfung „systemischer Risiken“ mit auf den Weg zu geben. Dazu gehören unter anderem Wahlmanipulationsversuche.
Vor allem Russland gilt als Urheber von Onlinepropaganda in sozialen Netzwerken. Das berühmteste – aber bei weitem nicht einzige – Beispiel ist die sogenannte Internet Research Agency. In Deutschland wurde die Petersburger Manipulationsfirma als Trollfabrik bekannt. Sie gehörte zum Imperium des verstorbenen Anführers der Gruppe Wagner, Jewgeni Prigoschin. Vor allem ihre Beeinflussungsversuche im US-Präsidentschaftswahlkampf 2016 machte sie bekannt, mittlerweile gilt sie allerdings zumindest offiziell als aufgelöst. Doch dass Russland unter Wladimir Putin keine weiteren derartigen Bemühungen unternehmen würde, scheint nahezu ausgeschlossen.
Kommission will, dass Betreiber schnell handeln
Demgegenüber steht eine diverse Mischung aus Nachrichtendiensten, Europäischem Auswärtigem Dienst und seinen nationalen Pendants, Wissenschaftlern, Journalisten, Kommissionen, Fact Checkern und Freiwilligen. Dutzende Initiativen und Projekte wurden in den vergangenen Jahren begonnen, um Fake News, Propaganda und Manipulationen zu identifizieren, oft mit Forschungsmitteln finanziert oder von um die Demokratie besorgten Stiftungen getragen. Entstanden sind dabei unter anderem cybersicherheitsartige Vorgehensstandards. Einige der Akteure arbeiten eng mit den Plattformbetreibern zusammen. Manche Anbieter gehen auch selbst immer wieder aktiv gegen Desinformationsnetzwerke vor.
Dass das bisherige Vorgehen aber nachhaltig erfolgreich ist, daran gibt es viele Zweifel – und das Engagement der Betreiber unterscheidet sich massiv. Hier will die EU-Kommission bei der Aufsicht über den Digital Services Act in diesem Jahr die Betreiber zu schnellem Handeln drängen. Etwa, indem sie darauf besteht, dass bei den Plattformen sprach- und landeskundliche Mitarbeiter entsprechenden Hinweisen nachgehen. Bislang war das für einige Plattformen nicht in allen EU-Sprachen der Fall.
Aber auch die Frage, wie etwa mithilfe Künstlicher Intelligenz Fehlinformationen generiert und gestreut werden, treibt die zuständigen Stellen um – verbunden mit der Frage, wie Plattformen diese identifizieren können. Dieses Problem ist neu, der AI Act der EU kann dabei keine Hilfestellung leisten. Wie solche Probleme in der Gegenwart aussehen können, zeigt in diesen Tagen ein Beispiel aus der Schweiz.
Einfluss über extrem rechte, aber auch andere Parteien
Der politische Fokus auf Desinformation sei grundsätzlich richtig, sagt Jakub Janda. Allerdings dürfe das nicht von den anderen Einfallstoren ablenken: „Wenig Fokus liegt auf russischen Einflussoperationen, die auf die extreme Rechte oder sogar Mainstream-Parteien in Europa abzielen.“ Das aber sei der Kern des Problems in Europa, zugleich gebe es „sehr wenig Maßnahmen, die ergriffen werden“.
So haben nur wenige Mitgliedstaaten eine Gesetzgebung, die mit dem Ausländische-Akteure-Gesetz in den USA vergleichbar ist. Eine entsprechende Initiative der Kommission hierzu ist erst wenige Wochen alt. Auch Überarbeitungen der Spionagegesetzgebung, wie sie etwa die baltischen Länder vorgenommen hätten, seien eher eine Seltenheit. Der Fall des AfD-Bundesvorstands Maximilian Krah warf erst vor wenigen Wochen ein Licht auf mögliche chinesische Geheimdiensttätigkeiten in Deutschland.
Janda warnt: Während in weiten Teilen Mittel- und Osteuropas die Bedrohung ernst genommen würde – mit ausdrücklicher Ausnahme der Slowakei, Bulgariens und Ungarns – würden die meisten westeuropäischen Staaten die Lage unterschätzen und viel zu wenig unternehmen. Das meint auch und ausgerechnet die großen EU-Mitgliedstaaten. Deutschland, Frankreich, Spanien und Italien machen 314 der insgesamt 720 Sitze bei der Wahl 2024 aus.
China könnte indirekt einwirken
Ebenfalls für möglich hält Janda eine andere Form von Einflussnahme: „Wir müssen mit chinesischen Operationen rechnen, bei denen über europäische Mittler-Unternehmen gedroht wird, dass Anti-Volksrepublik-Politik wirtschaftlichen Schaden für Europa bedeuten würde.“ Kommission und Europaparlament hatten zuletzt häufig eine härtere Gangart gegenüber China gefordert – was der Staats- und Parteiführung in Peking nicht entgangen war.
Von der Kandidatennominierung und die Wahlprogramme und den eigentlichen Wahlkampf bis zum öffentlichen Diskurs vor der Wahl: Es scheint derzeit viele Möglichkeiten für ausländische Akteure zu geben, eine Einflussnahme zu versuchen. Ob sie damit im engeren Sinne erfolgreich sind, ist dabei gar nicht zwingend maßgeblich: Schon die bloße Verunsicherung der Öffentlichkeit kann Teil des Ziels sein.
Wahlvorgang selbst gilt als kaum angreifbar
Im Europaparlament hält man einen Angriff auf den Wahlvorgang selbst allerdings für ziemlich unwahrscheinlich. Einzig Estland bietet seinen Bürgerinnen und Bürgern den volldigitalen Urnengang an. Theoretisch mit Cyberattacken angreifbar wäre in einigen Ländern, etwa in Deutschland, aber die Erstübermittlung von Wahlergebnissen, sagen Experten.
Das würde zwar keinen erfolgreichen Angriff auf die Wahl bedeuten, da die eigentlichen Ergebnisse dadurch nicht verändert werden könnten. Aber das Vertrauen in die Integrität des Wahlvorgangs leide, wenn erst ein Gewinner vorläufig gemeldet werde, anschließend aber das Ergebnis doch korrigiert werden müsse, so die Befürchtung zuständiger Beamter.
Ein weiterer Grund, weshalb die Agentur der Europäischen Union für Cybersicherheit ENISA gemeinsam mit anderen Stellen im Oktober zum zweiten Mal den Ernstfall probte. Simuliert wurde ein großflächiger Angriff auf die Europawahl – und die Zusammenarbeit der vielen beteiligten Akteure. Eine Auswertung der Übung wird allerdings voraussichtlich erst nach der Wahl 2023 veröffentlicht werden. Und noch bleibt ja etwas Zeit, sich auf mögliche Versuche der Einflussnahme vorzubereiten.