Noch nie wurden in einem Jahr in so vielen Ländern so viele Wahlen abgehalten wie in diesem: Jeder vierte Erdenbürger ist stimmberechtigt. Spannung verspricht nicht nur das Rennen um das Weiße Haus
Das Jahr 2024 kündigt sich als Superwahljahr an. Noch nie seit den Anfängen der Demokratie waren so viele Bürger aufgerufen, über ihre Regierungen abzustimmen: etwa jeder vierte Erdenbürger ist stimmberechtigt, das sind zwei Milliarden Menschen. Derzeit leben 45,3 Prozent der Weltbevölkerung in einer Demokratie, 36,9 Prozent hingegen in einer Diktatur, so der Demokratie-Index des Economist. Die Regeln dieser Demokratien unterscheiden sich erheblich, denn es gibt nicht nur lupenreine, sondern auch gelenkte oder Pseudo-Demokratien.
Üben die Bürgerinnen und Bürger ihr Wahlrecht aus, hat das unterschiedliche Konsequenzen: In Russland ist der Ausgang gewiss, weil die Opposition entmachtet wurde, in den USA könnte dagegen bei den Präsidentschaftswahlen eine neuerliche Zeitenwende bevorstehen. In mehr als 50 Ländern auf allen Kontinenten werden 2024 Urnen aufgestellt – mehr als 70, wenn man alle EU-Staaten einrechnet. 43 davon gewährleisten laut dem EIU-Index wirklich freie und faire Wahlen.
In einigen der bevölkerungsreichsten Staaten stehen die Zeichen auf Kontinuität, wie in Indien, wo mehr als 800 Millionen Wähler Premierminister Narendra Modi voraussichtlich im Amt bestätigen werden. In anderen, wie in Taiwan im Januar, ist der Ausgang offen – im Ringen mit dem großen verfeindeten Nachbarn China aber womöglich richtungsweisend, mit geopolitischen Konsequenzen.
Vor den Wahlen in Taiwan überschwemmt die Volksrepublik China die Inselbewohner mit Fake News. Das ist laut Außenminister nun wissenschaftlich erwiesen. Peking betrachtet den Inselstaat als abtrünnige Provinz. Mit Blick auf die schiere Zahl der anstehenden Abstimmungen und der akuten Sorge um Wahlmanipulationen ist zuletzt auch der Druck auf die Social Media-Plattformen gestiegen, die Flut von irreführenden Posts und zunehmend KI-gesteuerten Fake News zur Wählerbeeinflussung einzudämmen. Google und die Facebook-Mutter Meta sagten vor kurzem zu, Wahlkampfmanager zur Offenlegung digital manipulierter Werbeanzeigen verpflichten zu wollen.
Ein hohes Maß an Missbrauch wurde zuletzt im Wahlkampf in Bangladesch beobachtet, wo sich eine autokratische Regierung im Amt halten will. Weit größer ist das Potenzial in Indonesien, der als drittgrößte Demokratie geltenden Nation mit global begehrten Rohstoffvorkommen. Dort werden 205 Millionen Wahlberechtigte einen neuen Präsidenten bestimmen. Doppelt so viele Bürger, nämlich rund 400 Millionen, sind in diesem Jahr in der Europäischen Union aufgerufen, das Europaparlament neu zu wählen. 68 Prozent wollen ihr demokratisches Recht ausüben. Im Vergleich dazu wurden jenseits des Atlantiks in den USA zur letzten Präsidentschaftswahl 168 Millionen registrierte Wähler erfasst.
Im kommenden März hätten eigentlich auch in der Ukraine Präsidentschaftswahlen angestanden. Aufgrund des aktuell geltenden Kriegsrechts sind diese aber ausgesetzt.
Das sind die einige der wichtigsten Wahlen, die in diesem Jahr anstehen:
Vor dem Regierungssitz in Taipeh werben Demonstranten mit Stirnbändern für Frieden. Die erste wichtige Wahl steht am 13. Januar in Taiwan an. Sie wird überschattet vom Konflikt mit der Volksrepublik China, die Taiwan als abtrünnige Provinz betrachtet. Dem in Umfragen knapp führenden Kandidaten der Regierungspartei, Lai Ching-te, wirft Peking vor, entgegen dessen Beteuerung die vollständige Souveränität des Inselstaats anzustreben. Lai, bisher Vizepräsident, verteidigt das demokratische Erbe und den De-facto-Status einer souveränen Nation. Sein Sieg könnte erneute militärische Spannungen schüren, fürchten westliche Beobachter, bis hin zu einer Invasion. Vor wenigen Tagen sagte Chinas Staatschef Xi Jinping, die Wiedervereinigung sei unvermeidlich. Mit dem Versprechen, die Konfrontation mit Peking zu vermeiden, werben die Oppositionskandidaten Hou Yu-ih von der Partei Kuomintang und Ko Wen-je von der Volkspartei.
Im Februar geht das Präsidentschaftsrennen in Indonesien in die erste Runde. Demonstranten verhängen ein Wahlplakat der Regierungspartei. Sie fordern mehr Geld für Wanderarbeiter und Bildung. Der beliebte Staatschef Joko Widodo fügt sich in das Ende seiner Amtszeit, hat aber Söhne auf potenzielle Machtpositionen gehoben – im Bemühen, eine Familiendynastie zu etablieren. Die Wahl wird im Ausland als Test für die Rechtstaatlichkeit des Schwellenlandes betrachtet, zumal die Investitionen in die Rohstoffförderung in der politisch stabilen Amtszeit Widodos stark gestiegen sind. Als Favorit gilt Verteidigungsminister Prabowo Subianto, Schwiegersohn des früheren Diktators Suharto. Er tritt mit einem Widodo-Sohn als Vize an. Für die Regierungspartei PDI-P bewerben sich außerdem zwei weitere Kandidaten.
Zwischen Mai und August steht der regierenden ANC der größte Test ihrer Geschichte bevor. Die seit dem Übergang zur Demokratie 1994 mit einer parlamentarischen Mehrheit regierende sozialdemokratische Partei steckt im Umfragetief. Die ehemalige Partei der Befreiung vom Apartheid-Regime versagt aus Sicht der Bevölkerung bei der Modernisierung des Landes. Zwar ist die zweitgrößte Volkswirtschaft Afrikas (nach Nigeria) Mitglied im BRICS-Club der aufstrebenden Schwellenländer. Doch die Ungleichheit ist nirgendwo auf der Welt so groß wie in Südafrika. Die Regierung von Präsident Cyril Ramaphosa (M.) bekommt weder die chronischen Strompannen in den Griff noch die steigende Kriminalität. Ein großes Problem ist auch die Jugendarbeitslosigkeit vor allem unter der schwarzen Bevölkerung. Beobachter rechnen dennoch mit einem knappen Sieg des ANC vor allem aus Mangel an Alternativen. Die zentristische Democratic Alliance (DA) gilt unter der bisherigen Führung als „zu weiß“. Allerdings laufen sich schwarze Ex-ANC-Politiker warm. Neben Südafrika werden auf dem Kontinent auch Algerien, Ghana, Namibia, Ruanda, und Tunesien wählen.
Ungeachtet des Angriffskriegs in der Ukraine und einer bevorstehenden weiteren Mobilmachung wird in Russland im März ein neuer Präsident gewählt. Wladimir Putin darf von einer sicheren Wiederwahl ausgehen. Laut einem staatlichen Meinungsforschungsinstitut sprachen sich im November nahezu 79 Prozent der Bevölkerung für ihn aus. Bei der letzten Abstimmung 2018 war er auf knapp 77 Prozent der Stimmen gekommen. Eine Verfassungsänderung ermöglichen Putin bis zu zwölf weitere Jahre als Staatsoberhaupt. Die russische Opposition versucht dennoch, den Machthaber zu schwächen. Der prominenteste Putin-Kritiker Alexej Nawalny ruft dazu auf, jeden außer Putin zu wählen. Konkurrenten müssen zur Wahl aber erst einmal zugelassen werden. Vergleichbare Scheinwahlen werden 2024 auch in Belarus (Februar) und der islamischen Republik Iran (Anfang März) abgehalten.
Selten treten Oppositionsführer Keir Starmer und Premierminister Rishi Sunak gemeinsam auf, wie bei diesem Volkstrauertag 2022 in London. Der konservative Partei- und Regierungschef Sunak hat für dieses Jahr Neuwahlen zum Unterhaus angekündigt. Labour stellt sich auf den Monat Mai ein, und die Umfragen räumen Starmers Partei gute Chancen für eine Rückeroberung von Downing Street 10 nach 14 Jahren Opposition ein. Wohl war Sunaks Amtszeit weniger turbulent als die von Vorgängerin Liz Truss, die viele konservative Anhänger verprellte. Doch Pleiten bei prominenten Gesetzesinitiativen, wie dem Plan, illegale Flüchtlinge nach Ruanda abzuschieben, hinterlassen auch bei Tory-Wählern Spuren.
In den Plenarsaal des Europaparlaments in Straßburg werden Prognosen zufolge nach der kommenden Wahl mehr Rechtspopulisten einziehen. Wenn die EU-Wählerinnen und -Wähler im Juni ihre Kreuze machen, dürfte die Rechtsaußen-Gruppe Identität und Demokratie (ID), der auch die AfD angehört, mit fast 90 Abgeordneten die Grünen und möglicherweise auch die liberale Renew überholen. Nur die konservative EVP-Fraktion und die sozialdemokratische S&D wären noch stärker. Die Zusammensetzung des Europaparlaments hat Einfluss auf die Führung der EU-Kommission und damit auf weitreichende Entscheidungen wie die Finanzierung von Rüstungslieferungen an die Ukraine, denen rechte Parteien skeptisch gegenüberstehen. Auch die Klimapolitik könnte durch ein Erstarken der Rechtspopulisten unter Druck geraten. Aber nicht nur das EU-Parlament wird neu gewählt, in Belgien, Finnland, Kroatien, Litauen, Österreich, Portugal, Rumänien und der Slowakei stehen ebenfalls Abstimmungen an.
Offiziell ist sie nicht zugelassen zu den Wahlen – Wahlkampf macht sie trotzdem. Die ehemalige Abgeordnete Maria Corina Machado hatte sich bei Vorwahlen der Opposition als deren Präsidentschaftskandidatin durchgesetzt, doch der Oberste Gerichtshof in Venezuela hat das Ergebnis kassiert. Ob sie im Oktober antreten kann, bleibt somit offen. Wegen angeblicher Unregelmäßigkeiten aus ihrer Zeit als Abgeordnete wurde ihr die Ausübung öffentlicher Ämter für 15 Jahre untersagt. Der seit mehr als zehn Jahren mit harter Hand regierende Präsident Nicolás Maduro hat zuletzt mit Plänen für die Übernahme von Teilen des benachbarten Guyana auf sich aufmerksam gemacht. Das wegen Missmanagement und Korruption verarmte Venezuela reklamiert die ölreiche Region Essequibo seit über einem Jahrhundert für sich. Die Reserven Guyanas werden auf mehr als die Kuwaits oder der Vereinigten Arabischen Emirate geschätzt. In Lateinamerika wählen 2024 auch Mexiko, Panama und Uruguay.
Keine Wahl wird geopolitisch so weitreichende Wellen schlagen wie die für das Weiße Haus. Der Ausgang der Präsidentschaftswahlen am 5. November kann auch über den Ausgang des Ukrainekriegs entscheiden. Dem Republikaner Donald Trump werden im Wettstreit mit dem demokratischen Amtsinhaber Joe Biden gute Chancen für eine zweite Amtszeit eingeräumt – obgleich noch etliche juristische Hürden zu nehmen sind. Die meisten landesweiten Umfragen sehen Trump leicht vor dem wirtschaftspolitisch erfolgreichen Präsidenten. Andere republikanische Bewerber für die Nominierung sind, wie Ron DeSantis, entweder abgeschlagen, oder erscheinen, wie Nikki Haley aus South Carolina, angesichts Trumps anhaltender Beliebtheit chancenlos.