In diesem Monat sind die europäischen Bürger aufgerufen, die 751 Abgeordneten des Europäischen Parlaments zu wählen – der Vertretung von 507 Millionen Europäern. Der Ablauf des Wahlkampfs stellt einen kleinen, aber wichtigen Schritt bei der Entstehung des ersten transnationalen politischen Raums in der europäischen – ja sogar der Weltgeschichte – dar.
Zwar nimmt die Beteiligung an den Wahlen zum Europäischen Parlament ab: 43 Prozent im Jahr 2009 im Vergleich zu nahezu 60 Prozent zwischen 1978 und 1994. Aber trotzdem ist die Wahlbeteiligung im Laufe der letzten zehn Jahre mit der durchschnittlichen Teilnahme an den Wahlen zum US-Kongress vergleichbar. Angesichts der Tatsache, dass das Europäische Parlament als weit weg wahrgenommen wird, und dem weit verbreiteten Frust über die Bürokratie der Europäischen Union ist die Wahlbeteiligung und die Bewegung hin zu einer transnationalen Politik bemerkenswert.
Die transnationale Charakter der Wahlen kommt dieses Mal stärker zum Ausdruck, weil die großen gesamteuropäischen Parteien zum ersten Mal spezielle Kandidaten für die Präsidentschaft der Europäischen Kommission nominiert haben und die Kandidaten Wahlkampf machen, auch in Fernsehdebatten. Der Europäische Rat wird, wie es der Vertrag von Lissabon verlangt, die Wahlergebnisse bei der Auswahl der Kandidaten, die er dem Parlament zur Bestätigung vorstellt, berücksichtigen müssen.
Schaulaufen der Kandidaten für das Amt des Kommissionschefs
Der Wahlkampf für die Kommissionspräsidentschaft könnte sich als ebenso wichtig erweisen wie die finale Wahl. An der ersten Debatte, die letzten Monat stattfand, nahmen Jean-Claude Juncker von der konservativen Europäischen Volkspartei (EVP), Ska Keller von der Grünen Partei, Martin Schulz von der Progressiven Allianz der Sozialisten und Demokraten (mitte-links) und Guy Verhofstadt von der gemäßigten Allianz der Liberalen und Demokraten teil. Alexis Tsipras, der die Partei der Europäischen Linken vertritt, wird voraussichtlich an der letzten Debatte in diesem Monat teilnehmen.
Alle Kandidaten sprachen makelloses Englisch – obwohl die Debatte in 16 Sprachen übersetzt wurde. Angesichts der britischen Vorbehalte gegen die europäische Integration entbehrt es nicht einer gewissen Ironie, dass Englisch eine so wichtige Rolle bei der Schaffung eines transnationalen politischen Raums einnimmt.
Die Debatte wurde in sozialen Medien stark beachtet: Zehntausende Tweets zum Thema zeigten die Leidenschaft, mit der einige Europäer – insbesondere die jüngere Generation – Europas politische Entwicklung verfolgen. Obwohl das Interesse der Öffentlichkeit am Wahlkampf weit hinter dem bei nationalen politischen Wahlen zurückbleibt, ist es insgesamt stärker geworden als bei den letzten gesamteuropäischen Wahlen, trotz des Anstiegs von Nationalismus und Europaskepsis.
Nur eine Übung im politischen Kuhhandel?
Daher wäre es merkwürdig, wenn der Europäische Rat versuchen würde, den Kommissionspräsidenten zu nominieren, ohne die Reaktion der Öffentlichkeit auf den Wahlkampf zu berücksichtigen. Und dennoch besteht das Risiko, dass der Ernennungsprozess kaum mehr als eine Übung im politischen Kuhhandel wird, da die Mitglieder des Rates Führungspositionen, auch Sitze in der Kommission, unter Einbeziehung rein national politischer Erwägungen verteilen. Ein solcher Ansatz würde den Bürgern, die ihre Europawahl ernst nehmen, und der Glaubwürdigkeit der EU als Ganzem einen schweren Schlag versetzen.
Könnte das wirklich passieren? Oder hat der transnationale europäische Raum – obwohl er noch jung ist – bereits den Punkt erreicht, an dem er nicht ignoriert werden kann?
Viel hängt von den Wahlergebnissen ab. Vor allem die Wahlbeteiligung wird von Bedeutung sein. Wenn sie unter die im Jahr 2009 erreichten 43 Prozent fallen sollte, könnte der Rat plausibler argumentieren, dass die Prioritäten einer immer weniger interessierten Öffentlichkeit großenteils ignoriert werden dürfen. Bei einer Zunahme jedoch – zum Beispiel zwischen 45 und 47 Prozent – wäre es viel schwerer, das Ergebnis der Wahl zu ignorieren.
Auch auf das relative Abschneiden der gesamteuropäischen Parteienzusammenschlüsse wird es ankommen. Wenn zum Beispiel die Sozialisten 215 Sitze erhalten, gegenüber 185 für die Europäische Volkspartei, macht der deutliche Abstand ihren Vorsitzenden Martin Schulz zu einem äußerst starken Bewerber, obwohl keine Partei in die Nähe einer absoluten Mehrheit mit 376 Sitzen gekommen ist.
Chancenreiche Außenseiter gesucht
Wenn das Ergebnis knapper ausfällt, bei einer Differenz von lediglich fünf oder zehn Sitzen zwischen den beiden Spitzenparteien, könnte man argumentieren, dass keiner der beiden führenden Kandidaten „gewonnen“ hat. Das gäbe dem Rat mehr Spielraum, um einen „Außenseiter“ in Erwägung zu ziehen (beispielsweise Pascal Lamy, der eher Mitte-Links steht, oder Christine Lagarde, die der rechten Mitte nähersteht; bei beiden handelt es sich um äußerst erfahrene europäische Politiker, deren Namen in den Medien bereits aufgetaucht sind).
Um die Legitimität eines solchen Schritts zu erhöhen, müsste der Rat den Kandidaten auswählen, der enger mit der Partei mit den meisten Stimmen verbunden ist, unabhängig davon, wie knapp der Vorsprung war. Außerdem muss ein Außenseiter Chancen haben, die Unterstützung einer ausreichend großen Koalition im Parlament für sich zu gewinnen. Andernfalls, wenn keine der großen Parteien einen echten Sieg beanspruchen kann, könnten sie als Kompromiss beschließen, einem anderen Kandidaten aus dem Wahlkampf ihre Unterstützung auszusprechen – vielleicht Verhofstadt, dem gemäßigten Liberalen.
Wie Jean Pisani-Ferry erklärte, kann das Europäische Parlament trotz seiner erheblichen – und wachsenden – Macht in nächster Zeit kein zentraler Akteur in Europas wirtschaftspolitischen Debatten sein. Die wahre Entscheidungsgewalt wird größtenteils national bleiben.
Doch angesichts der Position des Parlaments im Mittelpunkt eines transnationalen europäischen Raums, der im Laufe der Zeit Europas Politik verändern wird und dazu beitragen könnte, dass der Kontinent den wiederauflebenden und gefährlichen Chauvinismus überwindet, sollte die erste europäische Wahl mit transnationaler Note nicht ignoriert werden. Wenn sich die europäischen Spitzenpolitiker am 28. Mai treffen, sollten sie die Stärke der europäischen Institutionen untermauern, indem sie sich für Kompetenz und Legitimität entscheiden.
Aus dem Englischen von Anke Püttmann
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