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Kolumne Die Welt steht nicht vor einer Finanzkrise

Kaum Betrieb am Flughafen in Peking: Die wirtschaftlichen Folgen des Corona-Ausbruchs werden hier sichtbar
Kaum Betrieb am Flughafen in Peking: Die wirtschaftlichen Folgen des Corona-Ausbruchs werden hier sichtbar
© Getty Images
Obwohl Europa ebenfalls von direkten Auswirkungen des Virus betroffen ist, wird der wirtschaftliche Schaden wohl weitaus geringer bleiben als in China, schreibt Capital-Kolumnist Holger Schmieding

Der besorgniserregende Anstieg der Coronavirus-Infektionen in Europa, Südkorea und einigen anderen Regionen außerhalb Chinas sowie die starke Korrektur an den Aktienmärkten werden auch in der Wirtschaft deutliche Spuren hinterlassen. Wir erwarten, dass die virusbedingten Störungen sowohl die gesamtwirtschaftliche Nachfrage als auch das Angebot in den betroffenen Regionen einschränken und das weltweite Geschäftsklima und Verbrauchervertrauen in den nächsten zwei bis drei Monaten schwer belasten werden. Im Anschluss dürfte das Wachstum langsam zu seinem Trend zurückkehren. Ein Teil der wirtschaftlichen Einbußen, die sich aus den unterbrochenen Lieferketten ergeben, könnte im weiteren Verlauf des Jahres zumindest teilweise wieder aufgeholt werden.

Während die Wirtschaft der Eurozone im ersten Halbjahr 2020 in etwa stagnieren dürfte, vermutlich mit einem leicht negativen Ergebnis im zweiten Quartal, dürften das stark betroffene Italien und das exportorientierte Deutschland ebenso wie Japan vorübergehend in eine technische Rezession geraten mit zwei aufeinanderfolgenden Quartalen schrumpfender Wirtschaftsleistung. Für das Gesamtjahr 2020 haben wir unsere Wachstumsprognosen gesenkt, und zwar von 1,0 Prozent auf 0,5 Prozent für die Eurozone, von 1,7 Prozent auf 1,3 Prozent für Großbritannien und von 2,1 Prozent auf 1,8 Prozent für die USA. Die Risiken für diese Prognosen, die wir vor einer Woche erstellt haben, sind kurzfristig weiter deutlich nach unten gerichtet.

Unsere grundsätzliche Sicht auf die Weltwirtschaft bleibt allerdings unverändert. Die Welt steht nicht vor einer Finanzkrise. Die mögliche Pandemie ist ein schwerer aber letztlich vorübergehender Schock für die Realwirtschaft. Sie ist jedoch kein Grund für eine Finanzkrise. Da die entwickelte Welt nicht unter gravierenden Exzessen leidet, die eine reinigende Rezession erfordern würden, können sich die Volkswirtschaften erholen, sobald der Coronavirus-Schock nachlässt. Die vorausschauenden Finanzmärkte sollten wie üblich bereits etwas davor nach oben drehen. Trotz der kurzfristig weiterhin bestehenden Abwärtsrisiken sehen wir keinen Grund für eine Panik an den Finanzmärkten.

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Zentralbanken sind sich der möglichen Belastungsproben für das Finanzsystem bewusst und werden versuchen, etwaige Abwärtsspiralen sofort zu stoppen. Nachdem die US Fed am Dienstag ihren Zins um 50 Basispunkte auf 1-1,25 Prozent gesenkt hat, wird die Bank of England (BoE) wahrscheinlich wird am 26. März mit einer Zinssenkung um 25 Basispunkte folgen. Die Volkswirtschaften der USA und Großbritanniens reagieren empfindlich auf die Vermögens- und Vertrauenseffekte größerer Schocks an den Aktienmärkten.

Eurozone weniger verwundbar durch Aktieneinbrüche

Obwohl die Eurozone stärker von den direkten Auswirkungen des Virus betroffen ist, reagiert sie weniger empfindlich auf Schocks an den Aktienmärkten als die US-amerikanische oder britische Wirtschaft. Die unerwünschten Nebenwirkungen von negativen Zinssätzen sowie das knappe Angebot an erwerbbaren Anleihen schränken mögliche Handlungsspielräume der Europäischen Zentralbank (EZB) ein. Von der EZB erwarten wir nächste Woche, dass sie sich darauf beschränken wird, es den Banken zu erleichtern, gezielt Liquidität für kleinere und mittelgroße Unternehmen bereitzustellen.

Wir sehen eine Wahrscheinlichkeit von 40 Prozent, dass sie am 12. März auch ihren Einlagensatz senkt. Sollte sich die Situation indes (bis dahin) weiter wesentlich verschlechtern, und/oder der neuerliche Höhenflug des Euros relativ zum US-Dollar anhalten, könnte die EZB ihren Einlagenzinssatz von -0,5 Prozent auf -0,6 Prozent senken und dabei die Freibeträge großzügiger gestalten, damit das Paket den Bankensektor nicht belastet. Sie könnte sich darüber hinaus dazu entschließen, den Umfang der monatlichen Anleihekäufe hochzufahren und dabei vor allem mehr Unternehmensanleihen erwerben. Im unwahrscheinlichen Extremfall einer tiefen Krise könnte sie sogar dazu übergehen, auch Bankanleihen oder sogar Aktien zu erwerben.

Unserer Ansicht nach werden sich die Märkte und Volkswirtschaften in Europa von dem Einbruch der Aktienkurse weitgehend erholen, wenn die Markt- und Wirtschaftsteilnehmer mit einer Verlangsamung des Anstiegs der Neuinfektionen rechnen. Letztlich dürften die Märkte und Volkswirtschaften nach einer sehr schwankungsanfälligen Zeit wieder allmählich zu ihrem Trend vor Ausbruch des Coronavirus zurückkehren. Aber: Europa befindet sich erst noch im Anfangsstadium des Ausbruchs. Die Märkte werden höchstwahrscheinlich erst eine weitere Reihe schlechter Nachrichten verdauen müssen, bevor sich die Situation in einiger Zeit langsam bessern kann. Der starke Rückgang des Einkaufsmanagerindizes für das verarbeitende Gewerbe in China im Februar auf ein Rekordtief von 35,7 Punkte (50,0 Punkte im Februar) sowie einem Einbruch der Auftragseingänge auf 29,3 von 51,4 Zählern im Vormonat, könnten Vorboten dafür sein, was in Europa in naher Zukunft an schlechteren Wirtschaftsdaten möglicherweise zu erwarten ist.

Europa ist nicht China

Wir glauben jedoch nicht, dass Europa nicht dem in China beobachteten Muster folgen wird. Die Lage bei uns unterscheidet sich in mindestens fünf Punkten von der in China:

  1. Kein Wuhan: Europa war von Anfang an in Alarmbereitschaft. In der chinesischen Region Hubei um Wuhan verbreitete sich das Virus zunächst einen Monat lang ohne entschiedene Gegenmaßnahmen, da die Behörden das potenzielle Ausmaß des Risikos noch nicht erkannt hatten. Eine Infektionslawine nach Art von Wuhan, die zu einer umfassenden Abriegelung einer riesigen Region führte, scheint in Europa weniger wahrscheinlich zu sein. Stattdessen könnte das Muster näher an dem der anderen und weniger - aber immer noch ernsthaft - betroffenen Regionen Chinas liegen, in die das Virus sich später ausgebreitet hatte.
  2. Europa ist wohlhabend: Seine Gesundheitssysteme dürften besser als die Chinas mit der Krise umgehen können.
  3. Mehr Transparenz: Die Situation im demokratisch regierten Europa ist viel transparenter als in China. Dies stützt das Vertrauen der Wirtschaftsteilnehmer.
  4. Weniger drastische Maßnahmen: Die europäischen Demokratien sind weniger geneigt, drakonische Maßnahmen wie die vollständige Abriegelung ganzer Regionen zu ergreifen, als Chinas Einparteienstaat.
  5. Verhaltene Reaktion der Wirtschaftspolitik: Die Geld- und Finanzpolitik wird in Europa weniger stark reagieren als in China. Die Gesundheitsausgaben werden angehoben, die automatischen Stabilisatoren, die in Kontinentaleuropa eine größere Rolle spielen als anderswo, greifen. Schwer betroffene Länder wie Italien erhalten mehr fiskalischen Spielraum und die Regierungen können vorübergehend gegenüber angeschlagenen Unternehmen und Bürgern Hilfe leisten. Darüber erwarten wir einige Steuer- und Ausgabenpakete, die über die schrittweise Lockerung der Finanzpolitik hinausgehen, die in Deutschland und vielen anderen Ländern der Eurozone bereits im Gange ist.

Dank der früheren Reaktion auf das Problem und mit weit leistungsfähigeren Gesundheitssystemen dürfte der wirtschaftliche Schaden in Europa weitaus geringer bleiben als in China. Allerdings dürfte es bei weniger drastischen Maßnahmen zur Eindämmung der Epidemie in Europa auch länger dauern als in China, um die Situation in den Griff zu bekommen. Das könnte bedeuten, dass Europa zwar mit einem weit geringeren aber doch länger andauernden Schock rechnen muss.

Risiken für Europa

Die Risiken für unsere Prognosen sind weit ausgeprägter als üblich. Als Ökonomen können wir die Ausbreitung des Virus nicht vorhersagen. Inwieweit Haushalte und Unternehmen in Panik geraten könnten, lässt sich ebenfalls nur schwer prognostizieren. Wenn weitestgehend Besonnenheit herrscht und sich die Ausbreitung des Virus innerhalb von vier Wochen eindämmen lässt, kann der Schaden dagegen weniger schwerwiegend sein, als wir momentan erwarten.

Wenn sich das Virus jedoch viel schneller und umfassender in Europa ausbreitet, als die jüngsten Daten für die chinesischen Regionen außerhalb von Hubei vermuten lassen, könnte der Schaden sogar noch erheblich größer ausfallen. In gleicher Weise könnte eine sich selbst verstärkende Vertrauenskrise einen ähnlichen negativen Effekt haben.

Jenseits der kommenden Monate sind die Risiken jedoch nicht nur abwärtsgerichtet. Die Reaktionen der Geld- und Fiskalpolitik auf die Epidemie kann kurzfristig dazu beitragen, den Rückschlag für das Vertrauen der Haushalte, Unternehmen und Anleger in die wirtschaftliche Zukunft einzugrenzen. Der eigentliche Impuls wird aber wie üblich erst zeitlich verzögert einsetzen. Sofern der Corona-Schock im zweiten Halbjahr 2020 wieder deutlich nachlässt, könnte es durchaus sein, dass die Wirtschaftsleistung sich dann beflügelt durch den Stimulus rasch erholt. Gegenüber dem jeweiligen Vorquartal könnte es dann sogar Zuwächse geben, die über der langfristigen Trendrate liegen, um einen Teil der Verluste wieder aufzuholen. Vorerst werden wir uns allerdings vor allem mit den kurzfristigen Abwärtsrisiken befassen müssen.

Holger Schmieding ist Chefvolkswirt der Berenberg Bank. Er schreibt hier regelmäßig über makroökonomische Themen. Weitere Kolumnen von Holger Schmieding finden Sie hier

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