Siemens steckt in einer akuten und einer chronischen Krise. Das Problem ist, dass die akuten immer so gelöst werden, dass sich die chronischen verschärfen. Ob strategisch oder operativ, immer wieder werden Ziele nicht erreicht, ein Rückschlag reiht sich an den nächsten: der überteuerte Kauf der US-Labordiagnostikfirma Dade Behring, die vermasselte Atom-Partnerschaft mit Areva, die verspäteten ICE-Züge für die Deutsche Bahn, die missraten Windpark-Anschlüsse in der Nordsee, das gescheiterte Solargeschäft. Für all das ist der Vorstand verantwortlich. Insofern ist es überfällig, dass Peter Löscher nun sein Amt aufgibt. Seit 2007 hat er es nicht vermocht, die Probleme zu lösen, trotzig behauptete er bis zum Schluss, dass er seinen Stuhl nicht räumen werde. Seine allerletzte Chance nach den vielen Warnschüssen der vergangenen Monate hat er nicht genutzt: den 360.000 Beschäftigten und Aktionären in aller Welt offensiv die Lage zu erklären und den Startschuss für die Aufräumarbeit zu geben.
Das Kernproblem aber war, dass Löscher die sechs Jahre seiner Amtszeit nicht so genau zu wissen schien, was er eigentlich mit Siemens anfangen sollte: keine Vision, stattdessen Sparprogramme und Zahlenziele - die nun nicht erreicht wurden.
Es wäre aber falsch, solche Probleme nur einem Mann anzulasten: Viel zu lange hat sich der Aufsichtsrat das Trauerspiel angeschaut. Dabei besteht die wichtigste Aufgabe dieses Gremiums darin, die richtigen Vorstände einzustellen, sie kontinuierlich zu prüfen und sie zu entlassen, wenn sie nicht geeignet sind. Dafür trägt der gesamte Aufsichtsrat die Verantwortung. Vorneweg dessen Vorsitzender Gerhard Cromme, der bei Siemens - wie schon zuvor bei ThysssenKrupp - 2007 seinen Lieblingskandidaten Löscher durchgedrückt und immer wieder schützend belobigt hat. Dieses Gebaren hat der gesamte Aufsichtsrat mitgetragen.
Dabei besteht der 20-köpfige Siemens-Aufsichtsrat nicht gerade aus unbedarften, schwachen Novizen, sondern aus Schwergewichten: IG-Metall-Chef Berthold Huber, Ex-Deutsche-Bank-Chef Josef Ackermann, Allianz-Chef Michael Diekmann und Werner Wenning, der Chefkontrolleur von Bayer und Eon. Warum haben sie so spät reagiert? Ihr Job ist es, einen schlechten Vorstand zu entlassen, dafür brauchen sie nicht auf eine Umfrage des Aufsichtsratsvorsitzenden zu warten. Und sie können und müssen es verhindern, wenn ihr Chefkontrolleur eigenmächtig seine Interessen durchsetzt. Denn er wird formal mit den Stimmen aller Aufsichtsratsmitglieder gewählt, von denen jeder einzelne dem Wohle des Unternehmens, der Mitarbeiter und Aktionäre dient – um das noch einmal zu betonen – und nicht dem Wohle von Cromme.
Wenn bei den Räten nun endlich die Erkenntnis durchgesickert ist, dass Siemens einen Neuanfang braucht, sollten sie sich nicht mit halbgaren Entscheidungen durchlavieren. Die offenbar überstürzte Abberufung von Löscher ist nur ein Teil der Lösung.
Der Rücktritt von Cromme, der der für Siemens' Krise mitverantwortlich ist, ist der nächste zwingende Schritt. Dafür braucht es aber starken Druck aus dem Gremium, da anders als bei ThyssenKrupp nicht ein mächtiger Gesellschaftervertreter wie Berthold Beitz für Sanktionen Sorgen kann. Bei Siemens hat der Familienstamm dagegen mit nur sechs Prozent der Anteile kaum Einfluss, die breite Mehrheit von knapp 60 Prozent liegt bei verschiedenen institutionellen Investoren. Immerhin haben die in der letzten Zeit zunehmend gezeigt, dass sie ihre Interessen etwa bei Lufthansa und Commerzbank eindrucksvoll geltend machen können. Cromme haben sie nach den Erfahrungen bei ThyssenKrupp allemal auf dem Kieker und dürften ihrem seit Monaten geäußerten Unbehagen über dessen Rolle bei Siemens nun mal ordentlich Nachdruck verleihen.
So wie Cromme als Aufsichtsratschef bei ThyssenKrupp weichen musste, um Vorstandschef Heinrich Hiesinger den Neuanfang nicht noch mehr zu erschweren, so sollte dieses Erbe auch für die neue Siemens-Spitze aus dem Weg geräumt werden.