Kommentar Die EZB macht sich über das Urteil aus Deutschland Illusionen

Das Urteil aus Karlsruhe hat die Anleihenkäufe der EZB für „teilweise verfassungswidrig“ erklärt
Das Urteil aus Karlsruhe hat die Anleihenkäufe der EZB für „teilweise verfassungswidrig“ erklärt
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Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts will die Europäische Zentralbank (EZB) die Anleihenkäufe fortsetzen – und verschließt dabei die Augen vor der Wirklichkeit

Letztendlich hat uns das Bundesverfassungsgericht einen Gefallen getan. Sein Urteil vergangene Woche warf ein Schlaglicht auf die toxische Idee, dass die Eurozone ihr Überleben für immer von ihren Zentralbankern und deren Enthusiasmus abhängig machen kann, die EU-Gesetzgebung bis an ihre Grenzen zu treiben. Oder vielleicht darüber hinaus, wie das Bundesverfassungsgericht vergangene Woche im Fall der Staatsanleihenkäufe (kurz: PSPP, Anm. d.Red.) der EZB schrieb.

Das Gericht stellte fest, die EZB habe ihre Kompetenzen überschritten und dabei deutsches Verfassungsrecht verletzt. Die deutsche Originalfassung des Urteils hat einen Umfang von 110 Seiten, die englische Version umfasst mehr als 90 Seiten. Ich denke, viele haben alle technischen Details noch nicht vollständig verarbeitet.

Anders als einige Kommentatoren angedeutet haben, glaube ich nicht, dass das Gericht die EZB lediglich um eine Richtigstellung gebeten hat. Ein Ratsmitglied deutete zwar an, die Zentralbank brauche fünf Minuten, um dieser Bitte nachzukommen, doch ich stimme mit dieser Ansicht nicht überein. Denn die EZB verschließt immer noch die Augen vor der Wahrheit.

Die EZB wird Mühe haben, die Vorgaben zu erfüllen

Insbesondere sehe ich nicht, wie es der EZB möglich sein soll, das Kaufprogramm den Kriterien aus Karlsruhe anzupassen, wenn sie nicht einige ihrer Parameter ändert. Die EZB wird auch in Zukunft Vermögenswerte aufkaufen und Nothilfe leisten. Ich nehme allerdings an, dass die Zentralbank wegen dieser Entscheidung langfristig weniger Vermögenswerte in ihrer Bilanz halten wird.

In Paragraph 212 seines Urteils erklärt das Bundesverfassungsgericht, dass das Fehlen einer vorab festgelegten Exit-Strategie die Risiken erhöht. In Paragraph 235 verpflichtet es die Bundesbank „mit Blick auf die unter dem PSPP getätigten Ankäufe für eine ... abgestimmte – auch langfristig angelegte – Rückführung der Bestände an Staatsanleihen Sorge zu tragen.“

Zuvor hatte es argumentiert, dass die Vermögenswerte von 2 Billionen Euro in der EZB-Bilanz ein Risiko darstellten, weil sie die Kompetenzen der Parlamente der Mitgliedstaaten berührten. Ich denke daher, dass die EZB Mühe haben wird, auf alle oder auch nur die meisten Bedenken des Bundesverfassungsgerichts zu antworten. Hüten Sie sich vor harmlos klingenden Worten im Urteil wie „offensichtlich“, „augenscheinlich“, „entsprechend“. Was einem Juristen offensichtlich ist, mag für den Rest von uns nicht offensichtlich sein – und umgekehrt.

Ohne Deutschland? Lieber nicht ...

Der Begriff der Verhältnismäßigkeit spielt im deutschen Verfassungsrecht eine besonders zentrale Rolle: Er verpflichtet Regierung und Gesetzgeber dafür zu sorgen, dass die Politik nicht zu weit geht und die Interessen aller Parteien berücksichtigt. Die Rechtsprechung neigt dazu, ihre Beurteilung der Verhältnismäßigkeit einer strengen Prüfung zu unterziehen. Es liegt aber in der Natur der Geldpolitik, dass sie manchmal unverhältnismäßig sein muss.

Die EZB unterliegt natürlich nicht dem deutschen Recht. Als EU-Institution untersteht sie dem Europäischen Gerichtshof (EuGH). Aber für die Bundesbank ist dieses Urteil bindend. Ich bezweifle, dass ihr Präsident, Jens Weidmann, die Karlsruher Richter mit einer oberflächlichen Antwort abspeisen wird. Das Urteil erlaubt der Bundesbank, nur für weitere drei Monate am Kaufprogramm teilzunehmen – es sei denn, sie findet einen Weg, den deutschen Kriterien nachzukommen. Theoretisch könnte die EZB auch ohne Deutschland weiter vorgehen. Da dieser Schritt zur Auflösung der Eurozone führen könnte, ist davon dringend abzuraten.

Seit seinem Urteil von 1993, das die Rechtmäßigkeit des Maastricht-Vertrags bestätigte, ist das Bundesverfassungsgericht radikaler geworden. Bis zur vergangenen Woche hat es die direkte Konfrontation aber immer vermieden.

Das Beunruhigendste an diesem Urteil ist die Erklärung, auch der Europäische Gerichtshof habe seine Kompetenzen überschritten, indem er dem Anleihenkauf zugestimmt hat und im lateinischen Jargon deutscher Verfassungsrechtler ultra vires (jenseits der Gewalten) gegangen ist.

Gefährlicher Präzdenzfall

Dieser Teil des Urteils wirft zutiefst beunruhigende Fragen über das Verhältnis zwischen der EU und ihren Mitgliedstaaten auf. Karlsruhe akzeptiert den Grundsatz, dass das EU-Recht dem nationalen Recht in Bereichen übergeordnet ist, die ausdrücklich in die Zuständigkeit der EU fallen. Es behält sich jedoch das Recht vor, zu entscheiden, ob die EU und der EuGH innerhalb oder außerhalb ihrer rechtlichen Kompetenzen handeln. Damit wird ein gefährlicher Präzedenzfall geschaffen.

Die klügste Antwort auf dieses Urteil wäre, wenn die EU die Probleme der Eurozone direkt angehen würde: die mangelnde Annäherung zwischen Nord- und Südeuropa, die Tragfähigkeit der Schulden und – was derzeit am wichtigsten ist – die Ausgabe von gegenseitigen Schuldtiteln zur Finanzierung eines Sanierungsfonds.

Das Bundesverfassungsgericht kann die EU-Kommission nicht daran hindern, 1 Billion Euro Schulden in Form einer unbegrenzten Anleihe aufzunehmen. Aber es ist wichtig, dass diese Schulden von der EU und nicht von den Mitgliedstaaten garantiert werden, weil das nationale Gerichte auf den Plan rufen könnte. Die Auseinandersetzungen über die Zukunft des Euro haben gerade erst begonnen. Um sie zu gewinnen, müssen Unterstützer der politischen und wirtschaftlichen Integration die EZB als ihr Sicherheitsnetz loslassen – und die Vorstellung, dass sie immer alles tun kann, was nötig ist. Diese Schlacht wurde vergangene Woche verloren.

Copyright The Financial Times Limited 2020

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