Oliver Zipse hat sich eine Hipster-Kulisse ausgesucht. An einem Abend Ende November spricht der noch relativ neue BMW-Chef vor ausgewähltem Publikum in Berlin. Er tut das im E-Werk, einem früheren Technoclub mit dem Charme alter Industriearchitektur, wie sie so beliebt ist in der Start-up-Hauptstadt – von der Decke hängen rostige Haken, die Wände sind unverputzt. Es gibt veganes Fingerfood und Detox-Drinks, irgendwas mit Gurke. Im Zentrum des Raums: der iNext, der Prototyp eines futuristischen Elektroautos, das ab 2021 in Serie gehen soll. Alles hier signalisiert Zukunft, eine neue Welt ohne Schadstoffe jeder Art.
Zipses Botschaft aber ist eine von gestern. „Wir werden sowohl in den Diesel als auch in den Ottomotor weiter investieren“, sagt der BMW-Chef. Es gehe darum, dem Kunden die „Power of Choice“ zu geben, ihm die Wahl des Antriebs zu überlassen. An keiner anderen Stelle bekommt Zipse mehr Beifall, die Car-Guys im Saal sind begeistert. Als er gefragt wird, ob sein Unternehmen damit nicht einen „Sonderweg“ beschreite, sagt er: „Es ist ja gut, dass nicht alle anderen das Gleiche machen.“
Der Satz ist typisch für die deutschen Autobauer in diesen Wochen: von Gemeinsamkeit keine Spur, jeder macht gerade seins. Ob bei der künftigen Rolle des Verbrenners, der Bedeutung von Plug-in-Hybriden oder der Frage, ob Batteriezellen in Deutschland gefertigt werden sollen oder nicht – nirgendwo ist man sich einig. Eine „deutsche Autoindustrie“ als einige Front gibt es nicht mehr. Die Konflikte reichen hinein bis in die eigene Lobby, den Verband der Automobilindustrie (VDA). Die Branchenmesse IAA geriet 2019 zum grandiosen Misserfolg. Verbandschef Bernhard Mattes musste gehen, die Suche nach einem Nachfolger wurde zur Qual.
Dabei gäbe es viele gute und dringende Gründe zu kooperieren. Der kalifornische Elektroautohersteller Tesla will sich mit einer neuen Fabrik in Brandenburg breitmachen. Sinkende Verkäufe und hohe Investitionen drücken auf die Gewinne. Der teure Umstieg auf Elektromobilität belastet die Konzerne. Die hohen Kosten wiederum vernichten Jobs: Im Wochenrhythmus verkünden Konzerne und Zulieferer, Tausende Arbeitsplätze streichen zu wollen.
Lauter Sonderwege
Mit dieser Aussicht vor Augen hatten BMW und Daimler noch Anfang des Jahres einen ganz anderen Weg eingeschlagen. Ebenfalls in Berlin verkündeten im Februar der damalige Konzernchef Harald Krüger und Daimler-Boss Dieter Zetsche, künftig enger kooperieren zu wollen. „Zusammen sind wir stärker“, sagte Krüger. Die beiden Konzerntöchter für Leihwagen in Großstädten, Drive Now und Car2go, sollten fusionieren. Auch beim autonomen Fahren und sogar bei Plattformen für Verbrennermodelle schien eine Zusammenarbeit möglich.
Doch in den vergangenen acht Monaten ist viel passiert. Zetsche übergab seinen Posten wie geplant an Ola Källenius, und Krüger wurde freundlich, aber bestimmt aus dem Amt gedrängt. Unter den Nachfolgern der beiden gehen die Projekte jedoch nur noch schleppend voran. Zipse erwähnt die Kooperation bei seinem Auftritt in Berlin gar nicht mehr. Die gemeinsame Share-Now-App wurde nach langer Verzögerung zwar freigeschaltet, aber immer noch wird man in die hauseigene Anwendung umgeleitet, wenn man BMWs buchen will.
Eine deutliche Wende

Im Aufsichtsrat in München räumt man die dramatische Wende unter dem Neuen offen ein – und unterstützt sie klar. „Zipse hat recht, wenn er sagt, dass BMW sich auf das Herstellen und Verkaufen von Autos konzentrieren sollte“, sagt ein Aufsichtsratsmitglied. „Wenn andere daraus noch anderes machen wollen, zum Beispiel Mobilitätsdienstleister, dann sollen sie das. Aber BMW macht Autos.“ Dies sei keine generelle Absage an Kooperationen. Doch von einer engen Partnerschaft, wie sie noch vor einem Jahr heiß diskutiert wurde, ist heute keine Rede mehr. „Wir glauben, dass Daimler und BMW stark genug sind, um jeder für sich auf den Weltmärkten zu bestehen“, sagt ein Aufseher.
Noch deutlicher ist die Abgrenzung zum großen Volkswagen-Konzern. Sichtbar wird das vor allem bei einem Bauteil, das mit etwa 30 Prozent den größten Anteil der Wertschöpfung im Elektroauto ausmacht: der Batterie. Daimler und BMW haben sich entschieden, die Batteriezellen, also die Einheiten, aus denen der Stromspeicher zusammengesetzt wird, nicht selbst zu fertigen.
Ganz anders bei Volkswagen: An einem kalten Morgen Ende November führt Frank Blome, freundlich und hochgewachsen, durch eine riesige Halle im niedersächischen Salzgitter. Blome leitet das Center of Excellence, eine Pilotanlage, in der die Wolfsburger mit dem Bau von Batteriezellen experimentieren. Auf einer Teststrecke werden die Rohstoffe zu dunklem Brei vermengt und auf dünne Kupfer- und Aluminiumfolien aufgetragen. Aus ihnen setzt sich die Zelle zusammen, die dann unter Laborbedingungen getestet wird. „Die Lithium-Ionen-Zelle ist zwar schon 30 Jahre alt, aber da lässt sich noch viel optimieren“, sagt Blome.
Noch wichtiger als die Pilotanlage ist, was bald eine Halle weiter entstehen soll. Gemeinsam mit dem schwedischen Unternehmen Northvolt will Volkswagen auf 200.000 Quadratmetern Fläche eine gewaltige Zellfertigung aufbauen . Serienstart: spätestens 2024. Kapazität: zunächst 16 Gigawattstunden, genug für etwa 300.000 Elektroautos im Jahr.
Aber warum macht Volkswagen das? Bei Kosten von etwa 1 Mrd. Euro für zehn Gigawattstunden? Warum kauft man die Zellen nicht einfach komplett bei asiatischen Zulieferern, wie es die anderen machen?
Wenn man Stefan Sommer das fragt, der im VW-Vorstand für Beschaffung zuständig ist, lehnt er sich erst mal zurück und holt weit aus. Er spricht von der Entstehung „einer gigantischen Industrie“. „Wir haben gelernt, dass wir uns da nicht einfach raushalten können, indem wir den Lieferanten sagen: Macht das mal für uns. Wir müssen da Verantwortung übernehmen. Wir machen mit ausgesuchten Lieferanten 50:50-Joint-Ventures, in denen wir uns die Investition und das monetäre Risiko teilen.“
Das bedeutet: Volkswagen setzt mit voller Kraft auf einen riesigen Markt, den es noch gar nicht gibt. Bis 2025 sollen allein in die Batteriezellen 30 Mrd. Euro fließen. Bei solchen Summen ist es dem Konzern wichtig, zumindest einen Teil der Expertise direkt vor der Tür zu halten – nicht nur Forschung, sondern konkrete Fertigung. Arbeitsplätze schafft das nur wenige, die Produktion ist hochautomatisiert. Aber es bringt Sicherheit für den Fall, dass die Nachfrage nach Elektroautos wirklich so in die Höhe schießt wie in den kühnsten Szenarien.
Um Tempo zu gewinnen, verzichtet Volkswagen sogar auf Fördergelder, die die Bundesregierung für die Zellfertigung bereitstellt. „Für das Projekt mit Northvolt ist definitiv keine staatliche Förderung angedacht“, sagt Sommer. „Wir haben dafür keinen Antrag gestellt. Wir wollen sehr schnell in die industrielle Fertigung.“
Zwei große Wetten

Der Wolfsburger Konzern, traditionell unter starkem politischem Einfluss, setzt radikal auf Elektroautos. In Zwickau wurde ein ganzes Werk komplett auf Batteriefahrzeuge wie den ID.3 umgerüstet, die Produktion lief Anfang November an. Weitere Standorte werden folgen, auf Basis des „modularen E-Antriebs-Baukastens“, der als Grundlage für unterschiedlichste Modelle entwickelt wurde. Schon 2030 soll der E-Anteil der Flotte bei mindestens 40 Prozent liegen, was angesichts der aktuell niedrigen einstelligen Werte noch wie Science-Fiction klingt.
BMW und Daimler hingegen geben mehr oder weniger unverblümt zu verstehen, dass sie das Verbrennergeschäft so lange ausreizen wollen, wie es geht. Sie bauen keine teuren eigenen Fertigungslinien für Elektroautos auf, sondern setzen auf flexible Fabriken, in denen Stromer, aber auch Benziner oder Diesel vom Band laufen können – je nach Nachfrage. „Wir werden immer darauf achten, dass sich die Elektroautos in bestehende Strukturen integrieren lassen, um flexibel zu bleiben“, sagte Jörg Burzer, Produktionsvorstand der Mercedes-Benz AG, Anfang Dezember auf einer Konferenz in Bremen. „Weil wir eben nicht genau wissen, wie der Markt sich entwickelt.“
Elektroautos werden bisher nur zögerlich in den Markt gedrückt. Während Tesla bis Ende Oktober bei den Zulassungen in Europa dreistellige Steigerungsraten verzeichnete, dümpeln die deutschen Vorzeigemarken weit dahinter. Der Grund: Ordentliche Margen und hohe Zuwächse holen die Hersteller nach wie vor mit ihren Verbrenner-SUVs und mit Limousinen wie dem 7er-BMW oder der S-Klasse von Mercedes. Stromer werden zwar gebraucht, um die Schadstoffgrenzwerte der EU einzuhalten. „Aber die Unternehmen müssen unbedingt weiter SUVs verkaufen, um Geld zu verdienen“, sagt der unabhängige Automarktanalyst Matthias Schmidt.
Im Grunde laufen gerade zwei große Wetten in der deutschen Autobranche. Die eine, die von Daimler und BMW, geht so: Solange der Verbrennermarkt brummt, wäre es fahrlässig, sich mit zu großen Investitionen an eine neue Technologie zu binden . Die andere, die VW-Wette, klingt anders: Politik und Wettbewerb werden schon bald einen Run auf batteriebetriebene Fahrzeuge auslösen – und dann kann die Verteilung der Antriebe so schnell kippen, dass man sich besser heute darauf vorbereitet, koste es, was es wolle. Es ist nicht ausgemacht, welche der beiden Wetten aufgehen wird.
Nachdem in Berlin BMW-Chef Zipse gesprochen hat, tritt Olaf Scholz ans Mikrofon. Die meisten Gäste denken zu diesem Zeitpunkt, jetzt spreche der künftige SPD-Vorsitzende und nächste Kanzlerkandidat der Partei zu ihnen – bis zur Verkündung des SPD-Votums sind es noch ein paar Tage. „Wir drücken Ihnen fest die Daumen“, ruft Zipse Scholz zum Abschied hinterher. Bei BMW wird man nun hoffen, dass man mit den Einschätzungen zur eigenen Branche besser liegt.
Der Beitrag ist in Capital 01/2020 erschienen. Interesse an Capital? Hier geht es zum Abo-Shop, wo Sie die Print-Ausgabe bestellen können. Unsere Digital-Ausgabe gibt es beiiTunesund GooglePlay