Es ist ja auch mal schön, am Ende einer Woche in diesem Jahr feststellen zu können, dass der ganz große Schock, die Katastrophe, ausgeblieben ist. Der Ölpreis ist in dieser Woche um gut zehn Prozent gefallen, das Fass der für Europa wichtigen Nordseesorte Brent kostete an diesem Freitagmorgen etwa 76 Dollar – nachdem es zu Wochenbeginn noch mehr als 86 Dollar gekostet hatte. In den USA und in Asien ist Öl sogar noch mal deutlich günstiger.
Noch ist es viel zu früh, das zu Beginn dieser Woche in Kraft getretene neue Ölpreis-Regime der G7-Staaten und der EU abschließend zu bewerten. Aber festhalten kann man schon: Ein Anstieg des Ölpreises auf 100 oder 120 Dollar pro Barrel, wie er von einigen Experten befürchtet worden war, ist zumindest mal vertagt.
Über die Ursachen des Preisverfalls – ausgerechnet nach den Entscheidungen von G7 und EU, den wohl größten Eingriffen in den Ölmarkt seit Jahrzehnten – lässt sich gegenwärtig nur spekulieren: Ist es die nachlassende Nachfrage in China wegen der dortigen Corona-Zahlen, die allgemein schwache Weltwirtschaft oder doch die jüngste Entscheidung der Opec-Staaten, die Förderung trotz dieser Sorgen zunächst nicht weiter zu drosseln? Sehr wahrscheinlich ist es ein Mix aus allem zusammen.
Auf dem Energiemarkt gilt nicht bloß A oder B
Und dennoch ist die Reaktion der Märkte ein wichtiger Hinweis für das Öl-Embargo der EU und den neuen Preisdeckel der G7: Der immer noch wichtigste Energiemarkt der Welt ist zu komplex für ganz schnelle Urteile, für ein schlichtes „wenn A, dann B“. Für den Westen, der mit dieser neuen Runde an Sanktionen Putins Regime einen schmerzhaften Stich und der russischen Kriegsmaschine in der Ukraine den wirtschaftlichen Boden entziehen will, ist das eine Chance. Aber zur Ehrlichkeit gehört eben auch: Die Risiken sind immer noch immens.
Ich musste in dieser Woche wieder an jene Losung denken, die unmittelbar nach dem Einmarsch Russlands in die Ukraine gerade in Deutschland die Runde machte – Putins Truppen standen bereits kurz vor Kiew, der Westen suchte noch nach Antworten, da hieß es: Alle Gegenmaßnahmen und Sanktionen, die die EU oder die USA fortan gegen Putins Reich beschließen würden, müssten Russland mehr schaden als dem Westen selbst. Die Regel klang vernünftig, aber angesichts der Monstrosität der russischen Aggression auch ein wenig halbherzig und egoistisch, für manche war sie verstörend kühl.
Damals ging es vor allem um die Frage, ob Deutschland oder die EU ein sofortiges einseitiges Embargo gegen russisches Gas aussprechen sollten. Es gab lautstarke Experten, vor allem Ökonomen, die mit Verve und vielen Zahlen und Modellen wedelten und erklärten, der Westen müsse nun hart sein, die hiesige Wirtschaft werde das schon verkraften. Andere Experten hielten dagegen, vor allem die chemische Industrie warnte vor einem massiven Produktionsausfall, was von der Gegenseite bis heute als vermeintlich durchsichtiges Lobbygeschrei abgetan wird – in einer zauseligen Ecke der Ökonomen-Welt flackert die Rechthaberei sogar immer noch und immer wieder auf.
Doch Bundesregierung und EU entschieden sich bekanntlich anders und wurden dafür immer wieder hart kritisiert. Die Entwicklung der letzten Wochen, die hohen Füllstände der Gasspeicher und der niedrige Gaspreis an den Märkten, geben ihnen meines Erachtens jedoch Recht. Es war richtig, in diesem Frühjahr trotz allen Entsetzens und aller Empörung noch so viel russisches Gas abzunehmen wie Putin bereit war zu liefern. Ohne dieses Gas wären die Speicher heute nicht bei immer noch 95 Prozent und gäbe es wohl keine Chance, einigermaßen gut geheizt durch diesen Winter zu kommen.
Energiemärkte waren immer hochpolitisch
Die Auseinandersetzung um Putins Gas hält aber eine wichtige Lehre für den aktuellen Streit um Putins Öl parat: Energiemärkte waren noch nie der Ort für die lupenreine Moral, so bitter das ist. Seit Jahrzehnten machen die großen Industrienationen der Welt mit fragwürdigen, düsteren Regimen Geschäfte, um ihren Energiebedarf zu decken. Wenn es hart kommt, hat der Westen Frieden, Menschenrechte und Umweltschutz in anderen Weltregionen noch nie über die eigenen Interessen gestellt. Das gilt für den jüngsten Gas-Deal Deutschlands mit dem Emirat Katar ebenso wie für die US-Regierung, die seit Neuestem die verhasste Junta von Venezuelas Diktator Nicolas Maduro umgarnt, um so an venezolanisches Öl zu kommen.
Der Slogan „Wandel durch Handel“, der diese Widersprüche immer zu glätten versuchte, hat sich als naiv bis scheinheilig erwiesen – das macht den Handel aber noch nicht überflüssig. Das gilt selbst für den Ausbau der erneuerbaren Energien, dem nur scheinbar moralisch sauberen Ausweg: Bei genauerem Hinsehen stellen wir fest, dass für all die neuen Windräder, Solarpanels und Elektroautos bei uns ein schrecklicher Raubbau an der Natur in weit entfernten Weltregionen betrieben wird, oft auch noch unter erschütternden sozialen Bedingungen.
Sanktionen werden Wirkung entfalten – irgendwann
Wenn man sich unter diesem Blickwinkel nun das Öl-Embargo der EU und den neuen Preisdeckel der G7-Staaten anschaut, dann muss man sagen, dass diese Sanktionen so blöd nicht sind. Sie werden nämlich auf mehreren Ebenen arbeiten – und wahrscheinlich auch Wirkung entfalten:
- Da ist das Importverbot für verschifftes Öl und Ölprodukte in EU-Staaten (mit etlichen Ausnahmen und Übergangsfristen), zusätzlich aber noch die Entscheidung Deutschlands und Polens, auch kein Öl mehr über die Druschba-Pipeline einführen zu wollen. Allein über die Druschba-Röhre kamen bis zuletzt mehr als 700.000 Barrel Rohöl jeden Tag auf den europäischen Markt. Nach Schätzungen des Thinktanks Bruegel verliert Russland so jeden Tag Einnahmen von 400 Mio. Dollar.
- Wichtiger aber noch als das Importverbot ist der Preisdeckel von 60 Dollar pro Barrel. Er drückt das Preisniveau für russisches Erdöl nach unten – es ist überhaupt das erste Mal in der Geschichte des Öl-Markts, dass dem Angebots-Kartell der Opec ein nicht ganz unbedeutendes Nachfrage-Kartell der wichtigsten Industriestaaten der Welt gegenübertritt und sagt: Wir akzeptieren nicht mehr jeden Preis. Ob dieser Versuch aufgeht und wozu er führen wird, ist offen. Für Russland aber, so viel lässt sich sagen, werden die Einnahmen aus dem Öl-Geschäft – und die sind für den Staatshaushalt weit wichtiger als die Einnahmen aus der Gasförderung – deutlich unter Druck geraten.
- Die Wirkung des Preisdeckels ist vor allem deshalb mächtiger als man vielleicht auf den ersten Blick meinen könnte, weil er gar nicht direkt wirkt, sondern indirekt über die Versicherer der großen Öl-Reeder. Diese Versicherer, so genannte Clubs, in denen sich eine Vielzahl an Versicherungsunternehmen zusammenfinden, um die Risiken aus dem Öl-Transport besser zu verteilen, sitzen ganz überwiegend in der EU und in Großbritannien. Sie beherrschen heute 90 Prozent des Weltmarkts und dürfen ab jetzt keine Versicherungspolicen mehr ausstellen, wenn das russische Öl an Bord zu mehr als 60 Dollar je Barrel verkauft wurde – und zwar weltweit.
Ja, es gibt Umgehungsmöglichkeiten: Reeder können Papiere fälschen; es gibt russische Versicherer, die die Policen übernehmen könnten (die müssten aber auch von den wichtigen Transitstaaten wie der Türkei, Ägypten und Panama akzeptiert werden); es gibt eine schwarze Flotte an alten russischen Tankern, die sich um all das nicht schert und das Öl einfach so um die Welt fährt. Aber es wird Russland so kaum gelingen, die riesigen Mengen Öl, die es bisher nach Europa exportiert hat, einfach nach China oder Indien zu verkaufen.
Mehr noch, und das ist vielleicht der mächtigste Wirkmechanismus der neuen Sanktionen: China und Indien werden als verbliebene Hauptabnehmer von russischem Öl ebenfalls ihre Macht zu nutzen wissen. Die ersten Verkäufe russischen Öls in dieser Woche notierten bereits mit einem Preisabschlag von 6 bis 8 Dollar je Barrel gegenüber dem regulären Preis an den asiatischen Börsen. Das heißt: Selbst wenn künftig alles russische Öl nach China und Indien geht (was kaum klappen wird), dann wahrscheinlich mit noch höheren Preisabschlägen als das bisher schon der Fall war.
Und das wird wiederum Rückwirkungen haben auf den Absatz der arabischen Öl-Staaten in der Region. Der Preisverfall dieser Woche könnte nämlich auch damit zu tun haben, dass China und Indien ihren Bedarf langfristig anders befriedigen werden.
So gesehen sind die Sanktionen möglicherweise sogar ziemlich klug: Russland wird nicht komplett vom Öl-Markt abgeschnitten. Im Gegenteil, Putin soll weiter liefern, aber eben nicht mehr zu Preisen, die ihm einen großen Eroberungsfeldzug nach Westen erlauben. Sie gefährden nicht die Öl-Versorgung der Welt, sie sind also einmal mehr ein typischer Kompromiss zwischen Moral und Geschäft. Aber das heißt nicht, dass sie Putin nicht trotzdem schmerzen werden.