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Mittelstand Das geheime Netz für schnelles Internet-TV

Lichtwellenleiter: So werden Glasfaserdatenleitungen auch bezeichnet. Hier ein Strang der von Bauunternehmer Weigand verlegten Kabel
Lichtwellenleiter: So werden Glasfaserdatenleitungen auch bezeichnet. Hier ein Strang der von Bauunternehmer Weigand verlegten Kabel
© Daniel Delang
Es zieht sich durch die halbe Republik, und kaum jemand weiß davon: Mit einem Glasfasernetz wagt ein Münchner Unternehmer den mutigsten Angriff auf den deutschen Fernsehmarkt sei Jahren.

Mit einer ausladenden Geste wischt Christoph Bellmer durch das Fernsehprogramm. Er springt nach links auf seinem Smartphone, auf dem Bildschirm erscheint das ARD-„Mittagsmagazin“. Noch einmal, und er landet bei einem Pokerturnier auf Sport 1. „Mittags ist das Programm echt nicht so toll“, ärgert sich Bellmer, aber das bremst seinen Enthusiasmus nicht. Was den hageren Mann mit dem kurz rasierten Schädel so fasziniert, ist die Geschwindigkeit, in der er von Kanal zu Kanal springen kann.

Eigentlich ist das nichts Revolutionäres – wer über Kabel, Satellit oder Antenne fernsieht, ist schnelles Zappen gewöhnt. Doch die App, auf der Bellmer gerade herumwischt, bezieht ihr Signal über das Internet. Und da durch dessen Leitungen immer mehr Daten müssen, kommt es im Glasfaserentwicklungsland Deutschland immer mal wieder zum Stau, vor allem in Ballungsgebieten und zu den TV-Stoßzeiten am Abend. Im Internetfernsehen gehört daher Nachladen und Ruckeln zum Nutzeralltag.

Bellmers App heißt Waipu , was sich vom japanischen Wort für Wischen ableitet. Er hat sie vor vier Jahren erdacht und im Herbst 2016 auf den Markt gebracht mit dem Versprechen, Ton und Bild in gewohnter Fernsehqualität zu liefern: in einer Anwendung, die sich einfach und intuitiv bedienen und mit dem Fernseher koppeln lässt – und bei der der Nutzer nicht spürt, dass sich das TV-Signal erst durch einen verstopften Internetknoten quälen musste. Dass das gelang, ist nicht nur Bellmers Start-up zu verdanken, sondern einer ungewöhnlichen Zusammenarbeit mit einem einfallsreichen Mittelständler und einem finanzkräftigen Konzern. Und einer folgenreichen Begegnung vor sieben Jahren.

Vom Mautbetreiber zum TV-Pionier

2010 begann Christoph Bellmer einen neuen Job als Manager in der Konzernbürokratie von Pro Sieben Sat 1. Er hatte nervenaufreibende Jahre hinter sich: Mitte der 2000er führte er als Geschäftsführer das Mautkonsortium Toll Collect aus einer tiefen Krise, im WM-Jahr 2006 baute er für den Kabelnetzbetreiber Unitymedia innerhalb weniger Monate den Sportsender Arena auf.

Der neue Posten versprach weniger Aufregung. Doch kurz nach dem Start lief Bellmer ein alter Bekannter über den Weg: Pierre-Alain Cotte, Mitgründer des Internetpioniers Web.de. Der erzählte von einem kaum bekannten Netz, einem Glasfaserkabel, mehrere Tausend Kilometer lang, vergraben von einem unterfränkischen Bauunternehmer. Es gebe da eine Lösung, sagte Cotte – hättest du ein passendes Problem?

Bellmer winkte ab, er hatte ja den neuen Job. Doch die Nacht darauf schlief er schlecht. Der Gedanke an ein modernes Smartphone-TV spukte ihm bereits durch den Kopf. „Die Idee hat mich nicht mehr losgelassen“, erzählt er. „Nach drei Monaten habe ich ihn angerufen: Lass uns noch einmal darüber reden.“ Cotte brachte Bellmer, den TV-Manager, und Marco Weigand, den Bauunternehmer, zusammen.

Eigene Rohre trickreich neben die der US Army gelegt

Die Geschichte von Weigands Netz wiederum beginnt im Jahr 1990. Da gründet Vater Rudolf Weigand mit seiner Frau in einem kleinen Ort unweit des Thüringer Walds ein Bauunternehmen. Er setzt einen Kabelverlegepflug ein, den er weiterentwickelt hat und mit dem er Leitungen schnell und kostengünstig unter die Erde bringen kann. Die ersten Aufträge kommen von der damaligen Bundespost-Tochter Telekom, die die neuen Bundesländer erschließen will. Später vergräbt Weigand auch Stromkabel, Wasser- und Gasrohre, das wichtigste Geschäft bleiben aber Telekommunikationsleitungen. Einer der größten Aufträge kommt von der US Army, für deren Stützpunkte er in Süddeutschland fast 4 000 Kilometer Rohre verlegt.

An sein eigenes Netz kommt Weigand mit einem Trick: Den Netzbetreibern, die ihn beauftragen, schlägt er einen Deal vor – für einen etwas günstigeren Preis darf er neben die zu vergrabende Leitung zusätzlich seine eigenen Rohre legen. Die Familie will selbst nicht über die Geschichte sprechen, aber es heißt, Weigand habe zwar nicht genau gewusst, wofür er die eigene Infrastruktur einmal brauchen würde, aber er ahnte, dass sich schon ein Nutzen finden würde. „Für die Enkel“ sei das gedacht gewesen, sagt Bellmer.

Ein lukratives Erbe, schätzt ein Brancheninsider: Ein weiteres Leerrohr koste vielleicht ein paar Cent pro Meter – heute eine Leitung neu zu verlegen schlage im außerstädtischen Bereich mit etwa 50 Euro pro Meter zu Buche, innerstädtisch sogar mit gut 200 Euro.

2002 übernimmt Weigands Sohn Marco die Leitung der Firma. Er professionalisiert nicht nur das Baugeschäft, sondern auch den Netzausbau. Ein Investor steigt ein, die Indus Holding, und übernimmt erst 70, dann 80 Prozent der Anteile an der Baufirma. 2004 kauft Weigand mit einem neu geformten Unternehmen von der insolventen US-Firma Metromedia einen Glasfaserring, der sich durch fast alle großen deutschen Städte zieht. Auch vom US-Militär kauft Weigand Infrastruktur zurück, die nicht mehr gebraucht wird.

Der Gedanke an ein modernes Smartphone-TV ließ Exaring-Vorstand Christoph Bellmer nicht mehr los
Der Gedanke an ein modernes Smartphone-TV ließ Exaring-Vorstand Christoph Bellmer nicht mehr los
© Daniel Delang

Und parallel baut Weigand weiter aus. 2013 verfügt er über ein Netz von über 8000 Kilometern Länge und sucht nach einer Möglichkeit, es zu Geld zu machen. Er bietet es der Bundesregierung zum Kauf an, wo wegen der NSA-Abhöraffäre überlegt wird, ein eigenes, physisch getrenntes Kommunikationsnetz für Bundesbehörden aufzubauen. Doch die Verhandlungen scheitern.

Dafür machen Bellmer und Weigand schließlich gemeinsame Sache. Sie sind ein ungleiches Paar, der Münchner TV-Manager und der Tiefbauunternehmer aus Bad Königshofen. Die Firma mit dem Namen Exaring wird gegründet, Weigand bringt die Nutzungsrechte an seinem Netz ein, Bellmer organisiert eine erste Finanzierungsrunde über 1 Mio. Euro.

Nach anderthalb Jahren hat Exaring einen ersten Prototyp für Waipu und braucht frisches Geld. Einen Finanzier findet die Firma in Christoph Vilanek, einem jovialen Österreicher, der seit 2009 den Mobilfunkkonzern Freenet leitet und gerade dabei ist, sein Unternehmen für neue Geschäftsmodelle abseits des gesättigten Kernmarkts zu öffnen. Fernsehen interessiert ihn dabei besonders, und von Exaring lässt er sich schnell überzeugen.

Im Frühjahr 2016 übernimmt Freenet ein Viertel der Anteile, ein Jahr später stockt der Konzern auf 50 Prozent und eine Aktie auf. 50 Mio. Euro lässt sich der Mobilfunker das Engagement kosten. „Wir sind für Exaring Fluch und Segen zugleich“, sagt Vilanek. „Dank uns sind sie durchfinanziert und verfügen über große Vertriebspower. Aber ohne uns, als unabhängiges Start-up, könnten sie im jetzigen Stadium sicher eine deutlich höhere Bewertung aufrufen.“

2017 ist das erste volle Jahr am Markt für Exaring, und ohne dass die große Marketingmaschine angeworfen wurde, hat das Start-up bereits den IPTV-Markt aufgemischt. Zum Jahresende stehen eine halbe Million registrierte Nutzer zu Buche, von denen über 100.000 zahlen – das ist beachtlich, findet Vilanek. Auch wenn er zugibt, ungeduldig zu sein, „denn die Deutschen erweisen sich als technische Gewohnheitstiere“. Fernsehen übers Internet ist und bleibt ein Nischenthema, auch die Konkurrenten – die unabhängigen Anbieter Zattoo, Magine und TV Spielfilm sowie die IPTV-Produkte der Telekom, von Unitymedia und Vodafone – verkünden keine Jubelmeldungen.

Virtual Reality-Dienste brauchen freie Datenleitungen

Waipu setzt sich mit Produktinnovationen ab, wie einem Aufnahmespeicher für Sendungen in der Cloud und der Möglichkeit, parallel an mehreren Geräten unterschiedliche Kanäle zu schauen. Das geht dank der Kapazitäten des inzwischen knapp 13.000 Kilometer langen Netzes. 100 Millionen parallele HD-Streams würde die Exaring-Infrastruktur aushalten, wirbt Bellmer. Langfristig sind auch andere datenintensive Dienste denkbar – Virtual-Reality-Anwendungen etwa. Die brauchen schnelle, freie Datenleitungen.

„Wir kommen in etwa 20 Millisekunden in jedes deutsche Wohnzimmer“, sagt Bellmer. Die Kunden müssen dafür nicht mal den Internetprovider wechseln: Das Exaring-Netz buchen die Anbieter der Inhalte und nutzen allein dessen Tempovorsprung auf dem Weg zwischen den Internetknotenpunkten.

Und dann ist da ein weiteres Potenzial von Exaring, das noch lange nicht ausgeschöpft ist: Weil das Fernsehsignal für jeden Nutzer individuell ausgespielt wird, ist bei den Münchnern zielgenaue Werbung möglich. „Was wir an Informationen über die Zuschauer im Detail einsammeln können, das ist hochwertvoller Stoff“, sagt Vilanek.

Es gibt bereits erste Vermarktungserlöse, vor allem aber einen vielversprechenden Test: Wer Waipu über Amazons Fire-TV-Stick nutzte, bekam während bestimmter Werbespots einen Shopping-Button gezeigt. Per Klick wurde der Nutzer auf die Amazon-Seite des jeweiligen Produkts geleitet, wo er es sofort bestellen konnte. Für die konservative TV-Welt ist das eine technologische Revolution.

Marco Weigand, der Bauunternehmer, hat mit dieser Seite des Geschäfts nichts mehr zu tun. Er hält weiter Anteile, hat auf das operative Geschäft aber keinen Einfluss. Nur wenn die Exaring-Leute sich eine neue Verbindung im Netz wünschen, dann schickt Weigand wieder seine Bagger und Pflüge los.

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