Dieses Mal ist alles anders. In den 20 Regierungsjahren der türkischen AK-Partei konnte Recep Tayyip Erdogan bei den Wählern meist mit wirtschaftlicher Performance punkten. Vor der für Mitte Mai geplanten Präsidentschaftswahl sind aber nun vor allem die Lebenshaltungskosten in einem viel schlechteren Zustand als noch in den ersten 15 Jahren seiner Amtszeit. Mit Erdogans Umfragewerten sieht es kaum besser aus – das Jahrhundertbeben im Südosten des Landes hat auch sein Standing beschädigt.
So steht der Präsident vor einem Dilemma: Bei dem Urnengang in zwei Monaten könnte er verlieren; schiebt er die Wahlen auf, läuft er Gefahr, dass der Preis, den die nationale Katastrophe fordern wird, mittelfristig in die nächste Krise führt. Regierungsbeobachter erwarten, dass Erdogan alles tun wird, um in den nächsten Wochen die Folgekosten der verheerenden Zerstörungen möglichst kleinzureden – und die Bilder von Schutt, Stahl- und Gebäudeskeletten mit einem Turbo-Aufbau zu übertünchen.
Das Naturereignis mit mehr als 45.000 Toten und über 100.000 zerstörten Gebäuden schadet auch dem autokratisch regierenden Staatschef – denn für viele der trauernden Familien war es eine Katastrophe mit Ansage. Die Wut in der Bevölkerung wegen der Bausünden, die von Behörden toleriert und gar im Nachhinein genehmigt wurden, ist groß. Zu viele Häuser hielten dem Beben nicht stand. „So eine fürchterliche nationale Katastrophe wäre kostspielig für jede Regierung“, sagt Gulcin Ozkan, Wirtschaftsprofessorin am King’s College in London. „Aber für eine, die in knapp drei Monaten den nächsten Wählertest bestehen muss, ist es sicherlich ein sehr herber Schlag.“
Da das Schwellenland sich in den vergangenen Jahren von einer Krise zur nächsten gehangelt hat, die mehr als einmal die Landeswährung auf Talfahrt schickten, ist die Wirtschaft auch im Wahlkampf 2023 beherrschendes Thema. Eine Währungskrise eskalierte im Sommer 2018, kurz nachdem Erdogan in einem mit zusätzlicher Macht ausgestatteten Präsidialamt bestätigt wurde, und im Herbst 2021 erreichte die Geldentwertung eine der höchsten Raten der Welt, das Leistungsbilanzdefizit bewegt sich auf Rekordhöhe, die Währungsreserven schrumpften.
Hundertjähriges Jubiläum steht bevor
Aber Erdogan will um jeden Preis weiterregieren – und die Früchte seiner Macht zum bevorstehenden 100-jährigen Jubiläum der türkischen Republik auskosten. Ende Oktober will er wie staatsmännisch angekündigt mit großem Pomp das nächste „Jahrhundert der Türkei“ mit mehr Wohlstand, regionaler und globaler Macht einläuten. Und so setzt er darauf, dass sich das wahre Ausmaß der wirtschaftlichen Folgeschäden des Bebens erst nach der Schicksalswahl manifestiert.
„Die volle Wirkung des Erdbebens auf die Wirtschaftsleistung (BIP) wird sich nicht vor den Wahlen zeigen“, betont Expertin Ozkan, die dabei auch das Haushaltsdefizit im Blick hat. Schon seit dem Herbst stiegen staatliche Ausgaben für Anhebungen des Mindestlohns, Lockerungen für zwei Millionen Frührenten, höhere öffentliche Saläre und ein dickes Finanzpaket für sozialen Wohnungsbau. Der für 2023 erwartete Fehlbetrag wurde auf 3,5 Prozent des BIP nach oben korrigiert. „Was nach dem Beben an Notausgaben obendrauf kommt, wird beträchtlich dazu beitragen.“
So unvermeidlich der Anstieg der öffentlichen Ausgaben sein wird, so negativ wird er den Haushaltssaldo beeinflussen, der wegen der Wahlgeschenke der vergangenen Monate bereits gelitten hat. Aber bei diesen Wahlen steht extrem viel auf dem Spiel, gibt Ozkan zu bedenken: „Es sind die härtesten, die Präsident Erdogan in seiner 20-jährigen Regierungszeit zu bestehen hat, was vermuten lässt, dass er keine Kosten scheuen wird, um Wählerstimmen zu gewinnen.“
In Verbindung mit den bestehenden großen Wirtschaftsproblemen – insbesondere der abwegigen Niedrigzinspolitik der Zentralbank trotz der rekordhohen Inflationsraten – besteht laut Ozkan „keine Zweifel, dass eine weitere Aufweichung der Haushaltsdisziplin die Fragilität der Wirtschaft verschlimmern wird“.
Eiliger Wiederaufbau?
Die unmittelbaren Zerstörungen haben nach Schätzungen Schäden zwischen 20 und mehr als 80 Mrd. Dollar angerichtet. Während die Osteuropabank die Gesamtkosten auf etwa einen Prozentpunkt des BIP schätzt, geht die US-Bank JPMorgan von direkten Wiederaufbaukosten im Umfang von 25 Mrd. Dollar oder 2,5 Prozent des BIP aus. Ein türkischer Unternehmerverband befürchtet gar bis zu 85 Mrd. Dollar an Folgekosten. Das entspräche rund zehn Prozent des BIP. Diese Rechnung schließt neben kollabierten Privat- und Gewerbegebäuden zerstörte Infrastruktur, verlorene Produktionskapazitäten und Beschäftigung ein.
Schon für März kündigte Erdogan bei einem zweiten Besuch in der Erdbebenregion den Start des Wiederaufbaus an. Die Bauwirtschaft war stets sein konjunkturtreibender Verbündeter: 200.000 neue Wohngebäude nicht höher als drei bis vier Stockwerke sollen entstehen, auf solidem Grund und geplant unter Mitwirkung „von Professoren für Geophysik, Geotechnik, Geologie und Seismologie“.

Den Plan des Präsidenten, binnen Jahresfrist das Katastrophengebiet wiederaufzubauen, halten Experten für verfehlt. Bessere Städteplanung habe dann keinen Platz, warnt etwa die Ingenieurskammer. Wer das im Eiltempo durchziehen wolle, habe den Schuss nicht gehört, heißt es sinngemäß. Behörden schätzen, dass von den regional rund 2,5 Millionen Gebäuden mindestens 106.000 abrissreif oder kollabiert sind.
Drohende Risiken
Schon als die AKP-Regierung vergangenes Jahr Milliarden für ein Sozialwohnungsprogramm ankündigte, warnte der Investmentberater Attila Yesilada, dies werde ein inflationstreibendes und die Stabilität der Lira gefährdendes Programm. Hätte ein Turbo-Aufbau nach der Katastrophe ähnliche Folgen? „Dies wird eines der Risiken sein, mit der die türkische Wirtschaft konfrontiert sein wird“, meint Ozkan. „Egal wer die nächsten Wahlen gewinnt, die Wirtschaftspolitik wird eine Herausforderung – zumal sich größere Probleme über die vergangenen Jahre angestaut haben, die von der Regierung immer nur vorübergehend gefixt wurden.“ Sie nennt etwa die Inflation, die sich auf dem höchstem Niveau seit 20 Jahren befindet, das unstete Wachstum, Leistungsbilanzdefizite in Rekordhöhe und steter Aderlass an Kapital.
Der volkswirtschaftliche Beitrag der Erdbebengebiete, die sich auf zehn Provinzen erstrecken und etwa 13 Millionen Einwohner zählen, erschöpft sich hauptsächlich in Landwirtschaft – vor allem Aprikosen werden von dort ins Ausland geschickt. Ergänzt durch verarbeitendes Gewerbe um die Industriestadt Gaziantep und den Hafen Iskenderun tragen beide Sektoren 8,5 Prozent zu den türkischen Exporten bei.
Auch wenn die Agrarwirtschaft nur vorübergehend brachliegt – und Mitarbeiter, die den Trümmern entkommen sind, bald zurückkehren – so ist bei einem Beitrag von 15 Prozent zum BIP doch ein beachtlicher Preisauftrieb bei Lebensmitteln zu erwarten. Wobei die Inflation hier schon um offizielle 70 Prozent schwankt. So wie Erdogan die Wirtschaft gesteuert hat, funktionierte sie schon vor dem Erdbeben für die meisten Menschen nicht mehr, fasst Yesilada die Lage zusammen. Und seine Belohnungen für die Treue zur Partei hätten viele wegen der hohen Inflation kaum zu spüren bekommen.
Auch das chronische Leistungsbilanzdefizit der Türkei hat sich im Jahr vor der Wahl versechsfacht, rechnete der Schwellenländeranalyst Timothy Ash vor. Wie für andere Länder ohne Öl- und Gasressourcen schlug die Explosion der Energiekosten hart zubuche. Gelder aus Katar, Saudi-Arabien und den VAE sollen die Konten etwas ausgeglichen haben. Aus Russland wurde mit 4,5 Mrd. Dollar zwar mehr importiert (darunter Erdöl mit Preisabschlägen) als exportiert (1,3 Mrd. Dollar). Aber einen Teil von 24 Mrd. Dollar unbekannter Herkunft, mit der Ankara die Hälfte des Rekorddefizits deckte, und unter dem obskuren Titel „Nettofehler und Auslassungen“ (Net Errors and Omissions) veröffentlichte, schreibt Ash auch Russland zu.
Wachstumsschub?
Was den wirtschaftlichen Ausblick angeht, so hatte die Türkei sich 2021 mit einem Wachstum von elf Prozent von der Corona-Pandemie erholt, 2022 erreichte es drei Prozent, ein Wert, der auch für das laufende Jahr erwartet wurde. Den nach dem Beben zu erwartenden Abstrich von vorläufig einem Drittel erklärt die Osteuropabank damit, dass ein Wiederaufbauprogramm Verluste abfedern würde. Womöglich kann schon das nächste Quartal einen Sprung nach oben vollziehen. Deswegen dürfte die Regierung Erdogan die Bauaufträge in Windeseile ausschreiben.
Ökonomen wie Ozkan vom King’s College bewerten das Krisenmanagement der Regierung bislang als eher schlecht. Ob sich die Schwierigkeiten jedoch zu einer möglichen Währungs- oder Finanzkrise auswachsen werden, werde in hohem Maß davon abhängen, ob eine neue Regierung nach den Wahlen ein glaubhaftes Programm auf die Beine stellen kann, das verlorenes Vertrauen der internationalen Kapitalmärkte zurückgewinnt. Dann könnten Kapitalzuflüsse erheblich zu einer Wende der Lage beitragen.