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Arbeitszeiten Wir werden länger arbeiten – ob wir es wollen oder nicht

Debatte über Arbeitszeiten: Das geringe Arbeitsvolumen bremst das Wachstum 
Debatte über Arbeitszeiten: Das geringe Arbeitsvolumen bremst das Wachstum 
© Getty Images
In der Debatte um längere Arbeitszeiten wird oft übersehen: Früherer Ruhestand und Work-Life-Balance sind wenig angenehm, wenn dadurch an allen Ecken die Arbeitskräfte fehlen, schreibt Gastautor Jörn Quitzau

Die Bürger sollen mehr arbeiten – so sagen es Bundeskanzler Friedrich Merz und jüngst auch CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann. Beide haben die gesamtwirtschaftlichen Fakten auf ihrer Seite: Das geringe Arbeitsvolumen in Deutschland ist eine Wachstumsbremse. Der Rückgang des Wachstumspotenzials von 1,2 Prozent auf nur noch 0,3 Prozent ist zu einem guten Teil auf den Rückgang des Arbeitsvolumens zurückzuführen. Das haben die Forschungsinstitute in ihrer Gemeinschaftsdiagnose im April erneut detailliert gezeigt. 

Auch die Sozialversicherung gerät in ernsthafte Finanzierungsschwierigkeiten, wenn die sogenannten Babyboomer in den Ruhestand gehen und somit von Beitragszahlern zu Leistungsempfängern werden. In den Sozialversicherungssystemen schlummert nach Angaben des Forschungszentrums Generationenverträge ein verdeckter Schuldenberg in Höhe von gut 300 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP). Damit wäre der bisher verdeckte Schuldenberg ungefähr fünfmal so groß wie der offizielle Schuldenberg des deutschen Staates (gut 60 Prozent des BIP). Der Staat müsste sich in den nächsten Jahren und Jahrzehnten massiv verschulden, um alle bisher gegebenen Leistungszusagen gegenüber den Bürgern einlösen zu können.

Zudem hat einer der fünf Wirtschaftsweisen, Martin Werding, kürzlich in einer Studie ernüchternde Zahlen für die Sozialversicherungsbeiträge vorgelegt: Unter den geltenden Regelungen und auf Basis mittlerer Annahmen für die gesamtwirtschaftliche Entwicklung würde der Gesamtbeitrag zur Sozialversicherung von aktuell 42 Prozent bis zum Jahr 2035 auf 47,5 Prozent und später sogar deutlich über 50 Prozent steigen. Ob jüngere Arbeitnehmer bereit sein werden, einen so hohen Teil ihres Einkommens an die Sozialversicherung abzuführen, ist sehr fraglich. Sie könnten mit den Füßen abstimmen über die bestehende Finanzierung des Sozialstaats und das Land verlassen. 

Massiver Arbeitskräftemangel droht

Aus gesamtwirtschaftlicher Perspektive ist völlig klar: Die Bürger – insbesondere auch die bisher noch nicht im Ruhestand befindlichen Babyboomer – müssten länger arbeiten, wenn der Lebensstandard und die Leistungen aus der Sozialversicherung erhalten bleiben sollen. Doch für gesamtwirtschaftliche Argumente scheint ein erheblicher Teil der Bevölkerung nicht empfänglich zu sein. Deshalb wäre es gut, den Scheinwerfer etwas zu drehen und das Thema aus einer anderen Perspektive zu beleuchten.

Die Menschen werden nämlich in jedem Fall länger arbeiten – ob sie es wollen oder nicht. Die Frage ist nur, ob sie das in ihrem Beruf machen oder während ihrer Freizeit. Denn was wären die praktischen Folgen für den Einzelnen, wenn sich immer mehr Menschen aus dem Arbeitsmarkt zurückziehen, sei es aus Altersgründen oder wegen einer besseren Work-Life-Balance? Die Folge wäre ein massiver Arbeitskräftemangel. 

Was passiert, wenn die Handwerker fehlen, die Gärtner, die Fensterputzer, die Steuerberater, die Physiotherapeuten die Ärzte oder das Pflegepersonal? Oder wenn sie so teuer werden, dass sie für den Durchschnittsbürger nicht mehr bezahlbar sind? Dann wird man die Arbeit selbst erledigen müssen. 

Oftmals werden das Arbeiten sein, für die man selbst gar nicht qualifiziert ist und/oder zu denen man keine Lust hat. Statt seine Freizeit entspannt zu genießen, wird man in „Do it yourself“ hineingezwungen und sich in der gegenseitigen Nachbarschaftshilfe engagieren müssen. In manchen Bereichen – zum Beispiel im medizinischen Bereich – wird es schlicht zur Unterversorgung kommen.

Wären Ruhestand und Work-Life-Balance wirklich noch so angenehm, wenn an allen Ecken die Arbeitskräfte und damit auch die Dienstleister fehlen? Oder anders ausgedrückt: Macht Freizeit nicht nur dann richtig Spaß, wenn andere für einen die Arbeit erledigen?

Arbeitsteilung ist effizienter als „Do it yourself“

Auch wenn mancher Engpass am Arbeitsmarkt mithilfe der Künstlichen Intelligenz überwunden werden dürfte, bleiben die Aussichten für eine auf Freizeit orientierte Gesellschaft doch trüb. Es ist eine Illusion zu glauben, dass sich ein großer Teil der Gesellschaft aus dem Arbeitsmarkt zurückziehen kann, ohne dass das Dienstleistungsangebot darunter leidet. Ganz so paradiesisch, wie sich viele Menschen das Leben ohne Arbeit vorstellen, wird es sicher nicht werden. 

Insofern ist es gut, eine gesellschaftliche Debatte darüber zu führen, wie die Arbeit bestmöglich organisiert werden kann. Sicher ist es ökonomisch sinnvoller, auf Arbeitsteilung als auf „Do it yourself“ zu setzen. Nur so kann die Arbeit effizient erledigt werden. Es kommt also entscheidend darauf an, die berufliche Arbeit attraktiver zu machen – sei es durch die Option des mobilen Arbeitens (Homeoffice), sei es durch flexiblere Arbeitszeitmodelle (insbesondere für ältere Arbeitskräfte nahe der Rente), sei es durch bessere (Netto-) Bezahlung. Das Paradies auf Erden werden wir dadurch zwar nicht bekommen. Aber zumindest holen wir so aus den demografisch bedingt eingeschränkten Möglichkeiten das Beste heraus. 

Jörn Quitzau ist Chefökonom bei der Schweizer Privatbank Bergos in Zürich.

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