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G20 Alternative Vietnam– warum der Kanzler in Hanoi war

Bundeskanzler Olaf Scholz wurde von Premierminister Pham Minh Chinh (l.) empfangen
Bundeskanzler Olaf Scholz wurde von Premierminister Pham Minh Chinh (l.) empfangen
© picture alliance/dpa | Kay Nietfeld
Olaf Scholz will auf seiner Asienreise Wege aufzeigen, damit Deutschland weniger abhängig von China wird. Dabei kommt er an Vietnam nicht vorbei – das Land ist der wichtigste Profiteur in der Neuorientierung der globalen Wirtschaft

Mehr als 100 Kräne lassen sich hier zählen. Sie reichen bis zum Horizont an der neuen Autobahn, die von der vietnamesischen Hauptstadt Hanoi in die Hafenstadt Haiphong führt. Auf mehr als 1000 Hektar Land entsteht hier, wo vor wenigen Jahren noch Reisfelder und Bewässerungsgräben waren, ein gigantisches Bauprpjekt, der „Ocean Park 2“. Hochhäuser, Townhouses im französischen Fin-de-siècle-Stil, eine immense künstliche Lagune mit maschinell erzeugtem Wellenschlag. So will der Vingroup-Konzern des einheimischen Selfmade-Milliardärs Phạm Nhật Vượng die Mittelschicht von Hanoi aus ihren engen Behausungen in eine Kunstwelt locken, wo man leben kann, wie in Singapur oder Europa, wie Phạm versprochen hat.

Er findet sich im Einklang mit der kommunistischen Regierung in Hanoi. Sie hat das Ziel ausgegeben, dass Vietnam – das bis vor einigen Jahren noch zu den Entwicklungsländern gezählt wurde – bis 2045 zu den wohlhabenden Ländern der Welt gehört. Eine kühne Ansage, die allerdings angesichts des Entwicklungstempos der vietnamesischen Wirtschaft nicht vollkommen unrealistisch klingt. Längst hat die Wirtschaft in Vietnam die des großen nördlichen Nachbarn China abgehängt, der traditionell in Vietnam als Rivale betrachtet wird. Um 6,4 Prozent ist die Wirtschaft des Landes im ersten Halbjahr gewachsen, die Prognosen der Banken und Institutionen für das Gesamtjahr liegen ebenfalls zwischen sechs und sieben Prozent, für die kommenden Jahre bleiben sie optimistisch.

Vietnam steht im Mittelpunkt der Neuorientierung der Globalisierung. Diese beschleunigt sich, seit Unternehmen und Regierungen im Westen begonnen haben, Auswege aus der Abhängigkeit von China zu suchen. Wer die Autobahn weiterfährt in die Hafenstadt Haiphong, dem öffnet sich ein plastischer Blick darauf, wie der Welthandel umsteuert: Die Mündung des Roten Flusses ins südchinesische Meer ist voll mit Containerschiffen. Die traditionellen Holzboote der stolzen vietnamesischen Fischer verlieren sich dazwischen. An der nördlichen Seite der Mündung wurde eine weit gestreckte Landzunge dem Meer abgetrotzt. In noch schnellerem Tempo als beim Wohngebiet Ocean Park wurden hier Fabrikhallen internationaler Unternehmen hochgezogen.

Das mit Robotern gespickte Autowerk von  Phams Marke Vinfast steht hier, ein paar Kilometer weiter entsteht eine Fabrik von Pegatron, einem taiwanesischer Auftragsfertiger, der für Apple, Panasonic, Sony arbeitet. Daneben baut Tesa. Der Klebstoffhersteller, der zum Beiersdorf-Konzern gehört, will von hier aus Handyhersteller und Autozulieferer in ganz Asien beliefern.

Vietnam ist ein Hightechstandort

Denn Vietnam hat längst das Stadium verlassen, in dem hier vor allem Turnschuhe und simple Zulieferprodukte hergestellt werden. Das südostasiatische Land ist ein Hightechstandort, den Unternehmen schätzen: Weil die Arbeitskosten noch niedriger sind als in China (sie lägen oft 50 Prozent unter denen des Nachbarlandes, sagen Industrievertreter), weil die Bevölkerung gut ausgebildet, die Regierung verlässlich und die Handelswege in andere Märkte offen scheinen. Denn das ist der Unterschied zwischen China und dem südlichen Nachbarn mit seinen knapp 100 Millionen Einwohnern: Vietnam ist, anders als China, nicht als Markt interessant, sondern als Produktionsdrehkreuz.

Die Liste globaler Firmen, die dieser Tage Produktion in Vietnam aufbauen, ist lang: Apple zieht die Produktion von iPads, Apple Watches und MacBook-Computern von China nach Vietnam. Der Spielzeughersteller Lego baut für mehr als 1 Mrd. Dollar sein fünftes und bisher größtes Werk im Süden des Landes. Samsung siedelt hier nach der Handyproduktion auch ein Entwicklungszentrum an. Weitere Hightechprodukte, die künftig aus Vietnam statt aus China kommen sind Laptops von HP und Dell, Google-Handys oder Spielekonsolen von Microsoft. Zu den deutschen Firmen, die nach Vietnam streben gehören die Autozulieferer Brose und ZF, der Gerätehersteller Kärcher, Baustofflieferant Knauff und Waschmittelfabrikant Henkel.

Die meisten dieser Firmen versuchen sich damit sachte von ihrem Chinageschäft zu abzulösen ohne es auszubremsen. Sie sprechen von Regionalisierung, von „China for China“ oder von einer „China plus one“-Strategie. Gemeint ist zweierlei: Das Chinageschäft soll möglichst isoliert werden. Das heißt Entwicklung, Produktion und Vertrieb für den chinesischen Markt finden in China statt. Lieferketten aber werden gekappt und Produktionsnetzwerke möglichst aufgelöst. So könnte im Fall politischer Spannungen oder gar Sanktionen wie in Bezug auf Russland, das globalisierte Geschäft der Firmen weiterlaufen, ohne dass sie auf den chinesischen Markt ganz verzichten müssten.

Kostengünstige Werkbank

Auch VW-Vorstand Thomas Schmall, dessen Konzern so abhängig wie nur wenige von China ist, bekundete zuletzt, dass der Autohersteller eine „Region for Region“-Strategie in Bezug auf China habe. Die Regionalisierungspläne sind natürlich in der Praxis schwerer umzusetzten als in der Theorie. Und nur dann umzusetzen, wenn die Isolierung Chinas nicht auch die Kapitalflüsse betrifft – ihre Gewinne aus dem Chinageschäft würden die Unternehmen schon gern unbeschränkt transferieren dürfen.

Zudem brauchen sie einen Ersatzstandort, für das, was China für viele Geschäfte in den vergangenen Jahren auch war: kostengünstige Werkbank für die Welt, Basis für den Austausch mit dem asiatischen Kontinent, Anschluss an die Hightech-Entwicklungen der Unternehmen aus Südkorea, Taiwan, Singapur oder Japan. Diese Rolle übernimmt mehr und mehr Vietnam. Ein Beispiel sind die Pläne des Klebstoffherstellers Tesa: Das Unternehmen baue nicht aus Kostengründen bei Haiphong, betont eine Sprecherin. Es gehe darum, den gesamten asiatischen Markt zu beliefern, von Indien bis Korea.

Somit ist es nur konsequent, dass Olaf Scholz vor dem Besuch des G20-Gipfels in Bali mit einer großen Wirtschaftsdelegation in Hanoi aufschlug. Scholz hat wiederholt betont, dass er es für Deutschland für existenziell halte, dass die Globalisierung weitergeht. Und auch auf seiner Asienreise – während der Wirtschaftskonferenz in Singapur – sagte er noch einmal, dass „unser Wohlstand“ vom „freien Welthandel“ abhänge. „Wir alle wissen, dass es notwendig ist, dass wir unsere Handels- und Lieferketten diversifizieren, dass wir nicht nur von einem Land abhängig sind“, sagte Scholz in Hanoi. Dabei spiele Vietnam eine zentrale Rolle, „eine aufstrebende, sehr dynamische Nation mit großem Engagement, was die wirtschaftlichen Entwicklungsmöglichkeiten betrifft.“ Das Entscheidende aber, fügte er hinzu, müssten die Unternehmen selbst leisten.

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