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Bernd Ziesemer Die Neuvermessung der Globalisierung

Capital-Kolumnist Bernd Ziesemer
Capital-Kolumnist Bernd Ziesemer
© Martin Kress
Der russische Krieg gegen die Ukraine und die wachsende westliche Skepsis gegenüber China verändern die globalen Handelsströme auf Jahrzehnte

Auf den ersten Blick geht es nur um ein paar Kaianlagen im Hamburger Hafen, in Wahrheit jedoch um sehr viel mehr. Die Bundesregierung will die seit langem geplante Beteiligung der chinesischen Staatsreederei Cosco an dem Container-Terminal Tollerort verbieten, wie das „Manager Magazin“ am vergangenen Freitag meldete. Dabei hatten sich sowohl die Chinesen als auch ihre deutschen Partner von der Hamburger Hafen und Logistik AG (HHLA) mächtig ins Zeug gelegt, um den Deal durchzusetzen. Der Hamburger Hafen solle zum „bevorzugten Hub“ der Riesenreederei in ganz Europa aufsteigen, die Zahl der umgeschlagenen Container gewaltig wachsen, der Handel zwischen Deutschland und China gewaltig profitieren.

Doch eine derartige Verbindung mit einem erheblichen Erpressungspotenzial für die kommunistische Volksrepublik passt nicht mehr in die Zeit. Seit dem russischen Überfall auf die Ukraine im Februar und den chinesischen Militärdrohungen gegen Taiwan Anfang August erleben wir eine Neuvermessung der Handelswelt. Was früher als bloße Geschäftsangelegenheit durchgegangen wäre, gerät nun in das große geopolitische Spiel. Die Wege der Waren rund um den Erdball verändern sich nachhaltig.

Bis zu Putins Krieg lief ein Großteil des West-Ost-Handels durch die traditionellen Transitländer wie Polen. Nun schiebt sich ein geopolitischer Riegel von Estland ganz im Norden über die Ukraine bis Bulgarien im Süden vor die Russische Föderation und den Vasallen Belarus. Nach den westlichen Sanktionen gegen den russischen Verkehrssektor – zum Beispiel das Flugverbot – geht nur noch wenig über diese Routen. Auch das ehrgeizige chinesische Projekt zur Beherrschung der großen geopolitischen Räume zwischen Schanghai und Duisburg, die „neue Seidenstraße“, verliert damit seine wichtigste Kraftlinie. Stattdessen wächst die Bedeutung anderer Handelsströme – zum Beispiel über die Türkei und die mittelasiatischen Republiken.

Kein Zuück zum Status quo ante bei der Globalisierung

Diese Entwicklung verstärkt sich massiv, wenn erst einmal die Abkopplung Europas vom russischen Erdöl und Erdgas voll greift. Das mit vielen Milliarden Euro über viele Jahrzehnte aufgebaute Pipelinenetz verwandelt sich spätestens 2024 in eine einzige große Investitionsruine. Und es gibt kein Zurück zum Status quo ante, selbst wenn der Frontverlauf in der Ukraine einfriert oder es gar zu einem Frieden kommen sollte. Nur ein Sturz Putins könnte die Entwicklung bremsen – aber wohl kaum umkehren.

Gleichzeitig erleben wir bereits jetzt eine Neubesinnung auf den transatlantischen Handel. Die USA und Kanada profitieren langfristig von der Neuvermessung der Welt am stärksten. Und China dürfte neben dem Pariastaat Russland zu den großen Verlierern gehören, auch wenn es große Teile der deutschen Industrie nicht wahrhaben wollen.

Der Westen ist nach den Erfahrungen mit den Erpressungen Putins und Xi Jinpings sehr viel vorsichtiger geworden gegen alle Versuche der Diktatoren, Handelswege unter ihre Kontrolle zu bringen. Wenn es um große Seehäfen und globale Flugkreuze, Logistikhubs, Pipelines oder transnationale Eisenbahntrassen geht, geht es auch immer um Geopolitik und Macht. Diese Erkenntnis war an der Schwelle zum 21. Jahrhundert im Zuge des großen Globalisierungsschubs so gut wie verschwunden – vor allem bei uns in Deutschland. Nun kehrt sie mit großer Wucht wieder zurück.

Bernd Ziesemer

ist Capital-Kolumnist. Der Wirtschaftsjournalist war von 2002 bis 2010 Chefredakteur des Handelsblattes. Anschließend war er bis 2014 Geschäftsführer der Corporate-Publishing-Sparte des Verlags Hoffmann und Campe. Ziesemers Kolumne erscheint regelmäßig auf Capital.de. Hier können Sie ihm auf Twitter folgen.

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