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US-Nahostexperte Simon „Die israelische Antwort dürfte sehr gewalttätig und weitreichend sein“

Rauch steigt über Gebäuden in Gaza während eines Luftangriffs aus Israel auf
Rauch steigt über Gebäuden in Gaza während eines Luftangriffs aus Israel auf
© Ahmed Zakot/ZUMA Wire / IMAGO
Je länger der Krieg gegen die Hamas dauert, desto unwahrscheinlicher wird ein baldiger Friedensvertrag zwischen Israel und Saudi-Arabien, sagt der frühere Obama-Berater Steven N. Simon. Und er erklärt, wie der Kampf zwischen Israel und Gaza enden könnte

Manche bezeichnen den 6. Oktober 2023 als Israels Pearl Harbor oder 9/11. Taugen diese Vergleiche?
STEVEN SIMON: Das werden wir wohl erst in einigen Jahren wissen. Die Auswirkungen dieses Angriffs auf die israelische Bevölkerung und wie das Land nun reagiert, all das können wir noch nicht absehen. Wird das ein entscheidender Wendepunkt in der Geschichte sein? Das gab es in der Vergangenheit, beispielsweise nach dem Jom-Kippur-Krieg von 1973.

Damals griffen Ägypten, Syrien und weitere arabische Staaten Israel an.
Und sieben Jahre später war der Friedensvertrag zwischen Israel und Ägypten in Kraft. Eine solche Entwicklung war 1973 kaum absehbar.

Israel denkt über eine groß angelegte Bodenoffensive im Gazastreifen nach. Kann das funktionieren?
Ich bin nicht sicher, wie groß diese Bodenoffensive wirklich wird. Für Israel würde das mit unfassbaren Verlusten einhergehen. Die Hamas hatte viele Jahre Zeit, um Fallen und Hindernisse aufzubauen. Das würde ein israelisches Vorrücken erheblich verlangsamen und viele Menschenleben kosten. Der Gazastreifen ist sehr beengt, städtisches Gelände kann gut verteidigt werden. Die Hamas würde so kämpfen, dass möglichst viele israelische Soldaten sterben.

Steven N. Simon arbeitet als Analyst und Nahostexperte am „Massachusetts Institute of Technology“ sowie am „Quincy Institute for Responsible Statecraft“. In der Obama-Regierung war er leitender Direktor des Nationalen Sicherheitsrates für den Nahen Osten. Im April 2023 veröffentlichte er das Buch „Grand Delusion: The Rise and Fall of American Ambition in the Middle East“.
Steven N. Simon arbeitet als Analyst und Nahostexperte am „Massachusetts Institute of Technology“ sowie am „Quincy Institute for Responsible Statecraft“. In der Obama-Regierung war er leitender Direktor des Nationalen Sicherheitsrates für den Nahen Osten. Im April 2023 veröffentlichte er das Buch „Grand Delusion: The Rise and Fall of American Ambition in the Middle East“.
© Steven N. Simon

Der israelische Verteidigungsminister Yoav Gallant hat gesagt, das Ziel sei, die Realitäten im Gazastreifen für die nächsten 50 Jahre zu verändern. Was heißt das?
Ich bin mir nicht sicher. Die israelische Antwort dürfte sehr gewalttätig und weitreichend sein. Aber ich denke, sie werden versuchen, das meiste aus der Luft und vom Meer aus zu erreichen. Das würde die Verluste minimieren.

Die Hamas hat zahlreiche Menschen in den Gazastreifen entführt. Wie können die lebend gerettet werden?
In der Vergangenheit hat die Hamas Gefangene über einen langen Zeitraum festgehalten. Viele wurden für Tauschgeschäfte genutzt. Israelische Gefangene gegen Hamas-Leute. Selbst wenn es zu einer Bodenoffensive kommt, dürfte die Hamas die Gefangenen an Orte bringen, wo die Israelis sie kaum finden werden. Israel schaltet bereits Vermittler ein, vor allem die Ägypter, um die Geiseln freizubekommen. Aber ich habe Zweifel, ob das funktionieren wird.

Ein Ziel der Hamas ist es offenbar, die Friedensverhandlungen zwischen Israel und Saudi-Arabien zu sabotieren. Wird ihr das gelingen?
Das wird maßgeblich davon abhängen, ob es den USA gelingt, einen Kipppunkt zu definieren. Washington muss der israelischen Regierung so viel Zeit geben, wie sie brauchen, um die Hamas zu bezwingen. Aber wenn dieser Konflikt zu lange dauert, sind die Verhandlungen mit Saudi-Arabien in ernster Gefahr. Je länger der Krieg dauert und je mehr Opfer es gibt, desto weniger könnten die Saudis einen Friedensschluss rechtfertigen. Washington muss auf Israel einwirken, dass dieser Krieg nicht zu lange dauert.

Wann wäre dieser Kipppunkt aus Ihrer Sicht erreicht oder gar überschritten?
Es gibt nicht den einen Punkt, da spielen viele Faktoren rein: Wenn Strom und Wasser gekappt werden, leidet die Gesundheitsversorgung der Menschen in Gaza massiv. Der Schaden an der kritischen Infrastruktur darf nicht so schwerwiegend werden, dass ein Wiederaufbau kaum möglich ist. Und die Zahl der Toten muss in einem gewissen Rahmen bleiben. Irgendwann wird es den Punkt geben, an dem wir denken: Das ist unverhältnismäßig, Gaza wird sich sonst nie wieder erholen.

Der Iran unterstützt die Hamas finanziell und mit Waffen. Ist das Land mitverantwortlich für den Angriff?
Es stimmt, dass der Iran der Hamas Waffen zur Verfügung stellt. Man kann das Land nicht vollständig aus der Verantwortung nehmen. Aber US-Außenminister Anthony Blinken sagt, es gebe keine Belege, dass der Angriff im Iran geplant und von dort aus gelenkt wurde. Ich gehe davon aus, dass das stimmt.

„Es gibt amerikanische Waffendepots in Israel für solche Notfälle“

Das Wall Street Journal berichtet, dass iranische Sicherheitsbehörden an der Planung der Anschläge sehr wohl beteiligt gewesen sein sollen. Die Zeitung beruft sich auf Mitglieder der Hamas und der Terrororganisation Hisbollah.
Die Recherche ist ziemlich inkohärent. In dem Artikel heißt es, dass die Europäer von Irans Beteiligung im Vorfeld wussten. Wenn die Europäer das wussten, wussten es auch die Amerikaner. Warum hätten sie Israel dann nicht gewarnt? Das ergibt aus meiner Sicht keinen Sinn.

Auch über eine Beteiligung Russlands wird spekuliert. Wenn im Nahen Osten ein Krieg ausbricht, könnte das die USA von der Ukraine ablenken. Spricht das dafür, dass Russland involviert ist?
Das halte ich für unwahrscheinlich. Natürlich hoffen manche Russen nun genau auf einen solchen Effekt. Aber die USA können sich auf beides konzentrieren. Im Moment schickt Washington einen Flugzeugträger ins östliche Mittelmeer. Das ist ein Symbol, um die Unterstützung für Israel zu demonstrieren, mehr aber nicht.

Kann Amerika sowohl die Ukraine als auch Israel mit militärischen Gütern unterstützen?
Das denke ich schon. Es gibt sogar amerikanische Depots in Israel für solche Notfälle.

Die Ukraine wird auch aus diesen Depots beliefert.
Ja, aber sie sind nicht leer. Die Frage ist, was die Israelis nun tatsächlich aus amerikanischen Beständen brauchen. Israel nutzt 155-Millimeter-Artilleriemunition. Diese haben die USA auch an die Ukraine geliefert. Aber das ist die einzige Überschneidung. Entscheidend für Israel sind die Flugabwehrsysteme „Iron Dome“ und „David’s Sling“. Das sind eigene israelische Produkte, dafür kann Amerika gar nichts liefern. Washington könnte aber die Produktion neuer Abfangraketen für die Systeme mitfinanzieren. Das halte ich für realistisch.

„Das setzt die Vernichtung der Hamas-Führung voraus“"

Im Frühjahr haben Sie ein neues Buch mit dem Titel „Grand Delusion: The Rise and Fall of American Ambition in the Middle East“ (deutsch: Der große Irrtum: Aufstieg und Fall amerikanischer Ambitionen im Nahen Osten) veröffentlicht. Wie können die USA in dieser Situation hilfreich sein?
Der Einfluss der USA ist begrenzt, aber es gibt Ansatzpunkte. Erstens: Die Regierung von Joe Biden könnte Benjamin Netanjahu davon überzeugen, das Angebot der Opposition anzunehmen, eine Regierung der nationalen Einheit zu bilden und sich von seinen ultrarechten Koalitionspartnern zu trennen. Und zweitens: Mit dieser Einheitsregierung könnte Washington zusammenarbeiten, um eine Art von Vereinbarung mit Gaza zu treffen, damit es einen solchen Angriff in absehbarer Zeit nicht mehr geben wird.

Aber das ginge nur ohne die Hamas, oder?
Wir sprechen hier von einem idealen Szenario, das extrem schwierig zu erreichen ist. Die Palästinensische Autonomiebehörde (PLO) muss wieder die Kontrolle über Gaza bekommen. Das setzt die Vernichtung der Hamas-Führung voraus. Wenn das so käme, bräuchten die Palästinenser massive Hilfe von außen, sonst übersteht die neue Regierung dort keine 30 Sekunden. Die Vereinten Nationen müssten eine signifikante Rolle spielen. Und die PLO müsste so stabilisiert werden, dass die Hamas nicht wiederkommt. Dafür müssten die Palästinenser auch mit den israelischen Sicherheitsbehörden zusammenarbeiten. All das dürfte nur möglich sein, wenn es in Israel eine Regierung der nationalen Einheit gibt. Und selbst mit ihr wird es nicht einfach.

Das Interview ist zuerst auf stern.de erschienen

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