Capital: Herr Leibert, haben Sie schon einen Threads-Account?
FLORIAN LEIBERT: Ja, ich habe mich gestern im Flieger auf dem Weg nach Deutschland angemeldet.
Was ist Ihr Eindruck?
Das ist schon ein ganz anderes Publikum als bei Twitter, was ich für Nachrichten und als professionelles Netzwerk nutze. Auf Threads fängt man ja mit seinen Instagram-Kontakten an, also dem eher privaten Netzwerk. Was das Produkt angeht, ist es sehr ähnlich aufgebaut wie Twitter. Das muss kein Problem sein, aber es gibt jetzt auch keine überraschenden Features.
Könnte es Twitter trotzdem gefährlich werden?
Ich vermute schon, es gibt ja jetzt schon einen massiven Zuwachs an Nutzern. Und im Gegensatz zu den ganzen anderen Twitterklonen wie Mastodon und T2 hat Threads eben diese Startvorteile, dass man über Instagram schon Kontakte hat.
Also jener Netzwerkeffekt, der für ein neues soziales Netzwerk die wahrscheinlich schwierigste Hürde ist…
Ja. Aber es gibt noch eine zweite Herausforderung, das sogenannte Kaltstartproblem. Vor meiner Zeit bei Twitter habe ich bei Ning gearbeitet, einem sozialen Netzwerk, das Marc Andreessen mitgegründet hatte und das zu der Zeit schneller wuchs als Twitter. Da hatten wir das Problem, dass die Nutzer sich zwar in Massen angemeldet haben, aber nicht zurückkamen auf die Seite – weil es an relevanten Inhalten mangelte. Man konnte dort Mikro-Social-Networks starten, eine lokale Gruppe für Segelbegeisterte etwa. Da postet man einmal und dann verläuft sich das schnell wieder. Und wenn die Leute nicht zurückkommen, dann kann man sie auch nicht monetarisieren. Das könnte Threads natürlich auch passieren.
Wie war das bei Twitter am Anfang?
Da hatten wir das Kaltstartproblem genauso. Oft hat es bis zu sechs Monate gedauert, bis ein User ein aktiver User wurde – das heißt, dass er sich immer wieder eingeloggt hat in einem bestimmten Zeitraum.
Wie haben Sie das Problem gelöst?
Da gab es keine simple Lösung, sondern wir haben mit vielen verschiedenen Features experimentiert, um das Engagement der Nutzer zu steigern – zum Beispiel um einzelnen Nutzern für sie relevante Inhalte und Nutzer zu empfehlen. Wir haben zum Beispiel über Cookies und Twitter-Share-Buttons ausgelesen, was die Leute vor dem Login für Webseiten besucht haben, um so mehr über sie zu erfahren.
Sie waren bei Twitter damals dafür verantwortlich, einige der größten infrastrukturellen Probleme zu lösen…
Twitter war zu der Zeit radikal anders als zum Beispiel Facebook, wo man nur eine begrenzte Anzahl von Freunden haben konnte. Das hat auch die Menge an Inhalten, die man ausgespielt bekommen konnte, begrenzt. Bei Twitter konnte jemand wie Justin Bieber aber schon zehn Millionen Follower haben. Und jedes Mal, wenn er was getwittert hat, mussten wir bei Twitter zehn Millionen Messages ausliefern. Darunter ist das System zu Beginn häufig in die Knie gegangen – aber wir konnten es lösen.
Man hat den Eindruck, als gebe es bei Twitter gerade wieder tiefgreifende technische Herausforderungen. Oder können Sie sich einen Reim auf die sogenannten Rate Limits machen – also die Entscheidung, dass man nur noch auf eine bestimmte Anzahl von Tweets zugreifen kann?
Ich kenne den konkreten Hintergrund nicht – es könnte sein, dass hier tatsächlich ein neues Feature erprobt und geschaut wird, wie sich das Nutzerverhalten daraufhin ändert. Die Nutzung von Twitter ist ja angeblich zuletzt nach oben gegangen – vielleicht kommen sie im Moment wirklich einfach nicht hinterher. Oder aber es geht darum, auf Bots zu reagieren. Das wird sehr stark unterschätzt, was für ein großes Problem Bots sind, die mithilfe von Twitter ihre Machine-Learning-Algorithmen trainieren. Deswegen gibt es ja auch die – wie ich finde richtige – Strategie, dass irgendwann jeder seinen Account verifizieren muss.
Also dass jeder acht Dollar zahlen muss, sonst ist er raus? Da würde doch massenweise Nutzer vertreiben.
Das gilt es herauszufinden, ob das wirklich so wäre. Sonst müsste man eine andere gute Antwort auf die Frage finden, wie sich das Botproblem lösen lässt. Vielleicht muss man dann eben über besagte Rate Limits gehen. Ich glaube, da muss man als Twitter ein bisschen mit experimentieren.
Ist das Botproblem wirklich das größte Problem von Twitter? Ist es nicht so, dass Twitter insbesondere in den letzten Monaten für viele Nutzer ein sehr viel unangenehmer Ort geworden ist als er zuvor war?
Ich weiß nicht, ob ich diese Ansicht teile. Für mich persönlich haben sich die Inhalte nicht drastisch verändert.
Ende 2022 haben Sie in einem Interview gesagt, dass der Einstieg von Elon Musk für Twitter eine Chance darstelle. Haben Sie sich geirrt?
Nein, ich glaube das immer noch. Er hat dafür gesorgt, dass mehr Features schneller ausgerollt werden. Für Nutzer gibt es zum Beispiel viel bessere Möglichkeiten, ihren Content zu monetarisieren. Darauf musste man Jahre warten und nun ist es innerhalb weniger Monate gekommen. Überhaupt finde ich es erstaunlich, dass die Seite noch funktioniert, obwohl Twitter jetzt 90 Prozent weniger Mitarbeiter hat. Das zeigt, was für eine aufgeblähte Organisation das Unternehmen war.
Öffentlich vermittelt Twitter eher den Eindruck, dass dort totales Chaos herrscht.
Natürlich sieht das erst einmal ein wenig chaotisch aus, wenn 90 Prozent der Mitarbeiter gehen müssen. Aber von außen können wir das doch gar nicht beurteilen. Und über Tesla und SpaceX wurden ähnliche Sachen am Anfang auch geschrieben. Wenn es in einer agilen Tech-Firma einen Führungswechsel gibt, dann wird es immer rumpeln.
Chaotisch ist doch auch, was auf der Plattform stattfindet: mehr extreme Inhalte, aufgeheizte Stimmung, Musks ständige Richtungswechsel. Das ist auch kein gutes Umfeld für Werbetreibende…
Es ist schwierig, ein Produkt zu bauen, das Anzeigenkunden lieben, weil dort nur Meinungen des Mainstreams stattfinden, und das gleichzeitig auch den Nutzern gefällt, weil sie dort sämtliche Ansichten finden. Aber das kann gelöst werden, und dann werden die Werbetreibenden auch zurückkommen. Wichtig ist: Elons Vision ist ja eine politische Arena, in der keine Meinung, keine Inhalte mehr zensiert werden. Und wo nicht wie bei Facebook der Content ganz klar in eine bestimmte politische Richtung gelenkt wird. Verstehen Sie mich nicht falsch – Facebook darf das natürlich mit seinem Produkt tun, aber ich als User muss es dann auch nicht benutzen.
Meinen Sie das ernst? Bei Facebook sollen die Inhalte politisch einseitig sein?
Ja, da gab es auch entsprechende Analysen. Bei Facebook werden liberale Inhalte bevorzugt. Das war mal anders, aber dann hat man gegengesteuert und nun ist es ins andere Extrem geschwenkt. Meiner Meinung nach sollte man aber Usern die Möglichkeit einräumen, den Content zu sehen, den sie wollen, solange er nicht gegen irgendwelches Recht verstößt.
Das Problem mit Musk ist aber doch, dass er sich eben nicht komplett heraushält, sondern seine eigenen politischen Ansichten zur Norm erklärt. Erst vor wenigen Tagen hat er den Begriff „cisgender“ zum Schimpfwort erklärt und angedroht, Nutzer, die ihn verwenden, zu suspendieren.
Das ist natürlich nicht Sinn der Sache. Da sollte er sich besser heraushalten.
Journalisten, die ihm nicht genehm sind, hat er auch schon blockiert. Er benutzt die Plattform für seine persönlichen Rachefeldzüge.
In dem Fall ging es um seine persönliche Sicherheit, die er in Gefahr sah, weil sein Aufenthaltsort öffentlich gemacht wurde. Aber es stimmt, so etwas entspricht nicht seinen ursprünglichen Ankündigungen. Wahrscheinlich hat er sich das auch einfacher vorgestellt, bevor er Twitter übernommen hat, wie schwierig solche Grenzfälle sein können. Und bei einer so großen Plattform hat man sehr viele Grenzfälle. Und dann ist immer die Frage: Ab wann leitet man daraus eine generelle Regel ab?
Musk scheint bei so etwas nicht besonders lange nachzudenken, im Gegenteil, er entscheidet schnell und erratisch. Und alle dürfen dabei zusehen.
Er hat halt wesentlich weniger Angst, zum Beispiel Werbekunden zu verlieren. Und seine Mitarbeiter wissen, wenn die Firma droht pleite zu gehen, lässt er sie pleite gehen. Twitter muss Geld verdienen. Das wird er auch schaffen, er hat schon massiv Kosten eingespart, durch Änderungen an der Infrastruktur und die Kürzungen am Personal.
Fünf Twitter-Alternativen
Die größten Chancen zum „Twitter-Killer“ zu werden, besitzt aktuell wohl Threads – eine App, die Facebook-Mutterkonzern Meta veröffentlicht hat. Threads sieht Twitter sehr ähnlich und funktioniert auch so. Meta selbst formuliert es anders und sagt, Threads sei nicht wie Twitter, sondern wie Instagram – nur mit Texten statt Bildern. Ein Vorteil ist offensichtlich: Nutzerinnen und Nutzer können denselben Personen folgen, denen sie schon auf Instagram folgen. Nutzer können sich auch direkt über Instagram anmelden.
Konkurrenz erhält Twitter ausgerechnet von seinem Gründer Jack Dorsey. Bluesky wirbt vor allem mit seinem dezentralen Ansatz. Im Gegensatz zu Diensten wie Twitter, Tiktok und Co., die zentral über Server der Betreiberunternehmen laufen, können sich die Nutzerinnen und Nutzer bei dezentralen Plattformen über viele kleine Server registrieren. Die Betreiber der Server sind etwa Einzelpersonen, die jeweils eigene Regeln für ihre Server aufstellen – sie sind nicht vom Netzwerk vorgegeben. Die Profiloberfläche ist der von Twitter sehr ähnlich. Nutzerinnen und Nutzer können sich einen Benutzernamen mit @-Handle erstellen, sie haben ein Profilbild, einen Hintergrund und ihnen werden Follower-Zahlen und gefolgte Accounts angezeigt. Die Posts, die Nutzer verfassen können, dürfen eine Länge von bis zu 256 Zeichen haben und Fotos beinhalten. Die Beiträge lassen sich über eine Plus-Schaltfläche erstellen.
Der bekannteste Twitter-Konkurrent dürfte aktuell wohl Mastodon sein. Ähnlich wie Bluesky setzt die Plattform auf einen dezentralen Ansatz, und war hierfür auch der Vorläufer. Angemeldete Nutzer können Kurznachrichten, ähnlich wie beim Messenger-Dienst Telegram, verbreiten. Diese werden „Toots“ genannt und dürfen maximal 500 Zeichen enthalten. Die Toots können anschließend kommentiert, geteilt und favorisiert werden. Mastodon erreichte infolge der Twitter-Übernahme ein rasantes Nutzerwachstum. Innerhalb eines Jahres verdoppelte die Plattform ihre Nutzerzahl von 5,03 Mio. auf 11,2 Mio. – wobei die Zahl der monatlichen Nutzer zuletzt wieder rückläufig war. Viele kritisieren beispielsweise, dass die Plattform aufgrund ihrer Dezentralität zu unübersichtlich sei.
Spoutible will die früheren Reize von Twitter wiederbeleben – also einen Ort schaffen, an dem vielfältige Menschen ihre Gedanken teilen. Auch optisch erinnert Spoutible stark an sein Vorbild, und ist anders als Bluesky und Mastodon eine zentrale Plattform. So finden Begegnungen zwischen Usern aller Art statt, was dem Anspruch der Plattform entspricht. Spoutible versteht sich als inklusive und explizit positive Gemeinschaft. Der Diskurs soll radikal konstruktiv sein, und Spoutible setzt hierfür auch auf Content-Moderation. Bislang kommt dies laut Nutzerumfragen gut an. Fraglich bleibt aber, ob die Moderation auch einem potenziellen Nutzerwachstum standhalten kann.
Post präsentiert sich sehr ähnlich zu Spoutible: Auch hier soll es gesitteter und konstruktiver zugehen. Im Gegensatz zu Spoutible will Post allerdings auch weitere Multiplikatoren wie Nachrichtenportale und Journalisten anlocken. Dazu bietet es eine Payment-Lösung an, wo User für Artikel und anderen Content direkt über die Plattform bezahlen können. Unterstützt wird die Plattform unter anderem durch den bekannten Investor Andreessen Horowitz (A16z), der beispielsweise in den E-Scooter-Verleiher Lime und die Buchungsplattform Airbnb investiert ist.
Artifact fällt etwas aus der Reihe, da es eigentlich keine Social-Media-, sondern eine News-Plattform ist. Nutzerinnen und Nutzer bekommen hier einen personalisierten Nachrichtenfeed von verschiedenen Artikeln. Die Inhalte können sowohl von bekannten Medienmarken als auch von kleineren Blogs stammen. Nutzerinnen und Nutzer können die Beiträge zwar kommentieren, aber keine eigenen Inhalte schaffen. Gegründet wurde Artifact von Instagram-Mitgründer Kevin Systrom, der sich für sein Start-up von Tiktok inspirieren ließ. Dessen Erfolg basiert zu einem großen Teil auf einem besonders ausgeklügelten Algorithmus, der Usern zielgenaue Kurzvideos vorschlägt. Eine ähnliche künstliche Intelligenz setzt nun auch Artifact ein.
Sie glauben, er wird daraus noch einen geschäftlichen Erfolg machen?
Ich glaube das nach wie vor. Das Produkt hat sehr, sehr interessante User, es gibt keine vergleichbare Plattform auf der Welt, auf der man auf Augenhöhe mit Stars, Politikern oder Topjournalisten diskutieren kann.
Aber dass er sein ursprüngliches Investment von 40 Mrd. Dollar wieder herausbekommt, ist doch unrealistisch, oder?
Hat er für Twitter zu viel Geld gezahlt? Wahrscheinlich schon. Auf der anderen Seite hat man sich bei Musks anderen Firmen am Anfang auch über ihn lustig gemacht – heute ist das meistverkaufte E-Auto ein Tesla. Klar gibt es die Möglichkeit, dass es bei Twitter nicht funktioniert. Aber bislang ist das nicht absehbar. Musks Investoren, zu denen ja namhafte Leute wie Larry Ellison gehören, glauben an ihn und dass er ein besseres Produkt bauen kann. So eine 180-Grad-Wende gelingt auch nicht über Nacht, dafür muss man erst einmal eine neue Kultur aufbauen.
Sie haben mal gesagt, das ewige Problem von Twitter sei, dass nie richtig klar war, was für ein Produkt es sein sollte: ein Nachrichtenmedium? Eine Kommunikationsplattform? Ist das inzwischen klarer?
Mit der Idee der politischen Arena, eines „public square“ gibt es meines Erachtens eine viel klarere Vision, für was das Produkt stehen soll. Und es wird ja noch mehr Arten von Inhalten geben – denken Sie nur an Tucker Carlson, der seine neue Show quasi auf Twitter gelauncht hat und das direkt monetarisieren kann, ohne dafür ein Fox News daran beteiligen zu müssen. Das finde ich super spannend.
Das ist natürlich auch eine Ansage, wenn die Galionsfigur der extremen Rechten für so ein Format steht.
Das mag sein. Aber das Format werden auch Personen von der anderen Seite des politischen Spektrums nutzen können. Tucker bringt halt eine große Anziehungskraft mit und es hat zeitlich gepasst, weil er bei Fox gerade raus war.