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Mode Tragbare Revolution: Alles geht bei den Männern

Gruppenbild auf dem Pont Neuf: Die Männer-Kollektion von Louis Vuitton für Frühjahr und Sommer 2024 war zugleich das Debüt von Kreativchef Pharrell Williams
Gruppenbild auf dem Pont Neuf: Die Männer-Kollektion von Louis Vuitton für Frühjahr und Sommer 2024 war zugleich das Debüt von Kreativchef Pharrell Williams
© Louis Vuitton
In der Menswear bricht die große Freiheit aus: everything goes. Das lässt sich auf sämtlichen Laufstegen der stilprägenden Designermarken beobachten. Modekolumnist Siems Luckwaldt ist begeistert von dieser Entwicklung

Manchmal sehen Revolutionen so aus: grau melierte Tweed-Loafer mit Schnalle, Poloshirts aus Wolle in Neonpink. Tweedsakkos. Kurze Beinkleider, die den Namen Hot Pants verdienen. Sehr weite Bundfaltenhosen, knöchellang. Tennissocken in der Sandalette. Broschen an nahezu jedem Revers. Und: Handtaschen in Form einer großen Clutch, einer aus der Damenabteilung bekannten Form, die in der Hand getragen wird.

Es geht hier, wohlgemerkt, um Männermode. Und dieser Ausblick auf die aktuell erhältliche Sommersaison, den Dior Homme vor einigen Monaten in Paris auf den Laufsteg brachte, zeigt, wie aufregend Menswear im Jahr 2024 aussehen darf: Alles kann, nichts muss – die Kollektionen erlauben mehr denn je einen kompromisslosen Ausdruck der eigenen Persönlichkeit. Ganz nach Gusto. Und Wagemut.

Nicht nur Diors Kreativdirektor Kim Jones schöpfte wie befreit aus dem gesamten Baukasten der Herrenbekleidung, von historisch bis hypermodern. Frischer Wind weht auch in anderen Ateliers, und zwar in Orkanstärke. Edelschneider Loro Piana etwa wartet mit einer sündhaft teuren Kombi aus Jeanshose und -jacke auf, als vollwertigem Anzugersatz – und ist damit nicht allein. Denim von Kopf bis Fuß hat vollends Businessreife erlangt. Für Zegna proklamiert Designchef Alessandro Sartori gar: „Der Anzug als Set aus Sakko und passender Hose ist passé. Heute darf alles zu allem getragen werden.“ Er machte es mit seinem Defilee gleich vor, mit etlichen lässig-leichten Overalls.

Anderswo können die Sakkorevers derweil kaum ausladend genug sein, dazu natürlich weite Hosen (mit dem Bund gern deutlich über der Hüfte) und Krawatten, die lose um den Hals baumeln. Es geht schließlich um eine Hommage an die Lässigkeit der 70er- und frühen 80er-Jahre. Nicht zu vergessen: der Doppelreiher. Überall, von Luxus über Premium bis Einstiegssegment.

Kein zaghaftes Revival

„Die Männermode erlebt in diesem Sommer eine dynamische Erneuerung durch eine Verschmelzung von Nostalgie und Moderne“, befand das Fachmedium „Women’s Wear Daily“ für die aktuelle Saison. Das klingt zunächst eher wenig aufregend. Schließlich entsteht eine Kollektion fast immer im Spannungsfeld der stilistischen Handschrift eines Hauses, der Impulse des Designers und des Zeitgeistes – sei es in Politik, Popkultur, Technik oder Gesellschaft.

Was sich jedoch in diesem Modesommer im Männerbereich Bahn bricht, ist deutlich (ge)wichtiger. Diesmal geht es nicht um das zaghafte Revival einer bestimmten Dekade, den Boom eines Labels oder Einzelphänomene wie etwa die Omnipräsenz des Sneakers oder riesiger Logos. Es geht um eine regelrechte Zeitenwende. Um grenzenlose modische Freiheit, um eine stille, äußerst tragbare Revolution.

Wohl erstmals in der jüngeren Modegeschichte ist es fast allen großen Luxusmarken gleichzeitig gelungen, ihre Visionen nicht bloß als spitze Offerte für eingeweihte Zirkel und experimentierwütige Early Adopter zu formulieren. Stattdessen haben die Kreativteams für die Saison Spring/Summer und den kommenden Herbst sowie Winter alles genutzt, was Mann bestens einkleidet. Ohne Zaudern, Tabus oder Raum für Totschlagargumente wie „Wer trägt denn so was?“.

Als Antwort auf letztere Frage reicht nämlich mittlerweile ein Verweis auf Plattformen wie Instagram oder TikTok, auf von Marken umgarnte (Pop-)Stars, auf die rastlose Neugier junger Käuferschichten weltweit. Irgendwer wird das eben sehr wohl tragen. Und diese Zielgruppe – von Millennials bis Gen Alpha – stellt für die Luxusmarken bereits 2030 die wichtigste Klientel!

Doch was hat diese große Freiheit eigentlich über die letzten Jahre begünstigt? Nun, neben der Gier nach Retro-Styles war das vor allem der Athleisure-Trend (von „athletic“ – sportlich und „leisure“ – Freizeit), also der Boom komfortabler, sportlicher Kleidung, die überall getragen werden kann. Dieser Trend hat dank neuester Faserforschung und Stretchmaterialien auch die klassische Männermode in Bewegung gebracht – die dann wiederum, in einer Art Rückkopplung, den einstigen Gymklamotten reichlich Schnitt-Raffinesse und Seriosität verlieh. Die Grenzen, sie verschwimmen längst. Und wenn nun der doppelreihige Anzug beachtliche Erfolge feiert, so tut er es mit relaxter Silhouette, bequemen Stoffen und dem Komfort, an den wir uns im Homeoffice gewöhnt haben.

Gleichzeitig hat das Dandy-Revival vor einigen Jahren die Expertise von Herrenschneidern wie Zegna, Brioni oder Loro Piana in jüngere Demografien getragen. Die wiederum finden ein entspanntes Kombinieren von früher streng maskulin oder feminin codierten Looks und Accessoires völlig normal. Sie blicken auf Sportler oder Musikgrößen und folgen deren fröhlicher Flamboyanz in die Boutique oder den Onlineshop.

Raus aus der Uniform

Die Entwürfe von Dior, Hermès oder Louis Vuitton sind daher auch als herzliche Einladung zu verstehen. Dazu, abgetragene textile Rollenbilder in den Altkleidersack zu stopfen. Dorthin, wo ebenfalls die grundlose Selbstbeschränkung auf aschgraue oder marineblaue Alltagsuniformen hingehört. Genau wie die modische Fantasie- und Mutlosigkeit, die sich bloß beim Sport, in den Ferien oder hinter dem Rasenmäher etwas locker macht.

Mit Mode spielerisch umzugehen, den eigenen Charakter zu unterstreichen, einer momentanen Laune Ausdruck zu verleihen, eine Phase zu wagen – Frauen gelingt das oft intuitiv, Männer versagten es sich bisher. Statt sich auch mal als Salonlöwe in Nadelstreifen zu inszenieren. Oder als Bohemien mit Brosche und Perlen, als Poolboy in Mini-Shorts oder Lebemann im Seidenpyjama. So wie es Adel und Oberschicht übrigens schon immer durften, konnten und wollten. Ehe die Industrialisierung und Wertpapierbörsen den feinen Zwirn von Armani, Brooks Brothers und Boss zum Nonplusultra der Erfolgssymbolik erhoben. Zur Uniform.

Das Schönste an dieser neuen Realität eines „Everything goes“ ist: Sie dürfte von Dauer sein. So geht es bei Fendi im Herbst unter anderem mit Hosenröcken weiter, mit Lederjacken in Himbeerrot, mit It-Bags für ihn. Prada präsentiert kastige, lange Sakkos, etliche Modehäuser bieten Grandpa-Strickjacken aus feinster Wolle sowie das „Workshirt“ als Sakko-Ersatz – aus festem Stoff, mit vier Taschen und gern zu Cargohosen getragen. Dazu Nadelstreifen und viel Glamour: durch glitzernde Lurex-Fäden und Paillettenbesatz auf Pullovern, Sakkos oder Hemden. Leopardenmuster, Schlangenleder(imitat)-Stiefel und Kunstpelzmäntel wie bei Gucci, Todd Snyder und Louis Vuitton. 

Was man bei all dem nicht vergessen darf: Style ist karrierefördernd, er hilft bei der Präsentation und dem eigenen Selbstverständnis, klärt Kopf und Charakter, macht im besten Sinne sichtbar. In jedem Alter. Und wenn die künstliche Intelligenz uns austauschbarer macht, müssen wir dem Roboter eben das entgegensetzen, was er niemals wird kopieren können: Geschmack, Stilempfinden und die Freude daran, sich todschick zu fühlen.

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