Mit der „Unstatistik des Monats“ hinterfragen der Berliner Psychologe Gerd Gigerenzer, der Dortmunder Statistiker Walter Krämer und RWI-Vizepräsident Thomas Bauer jeden Monat sowohl jüngst publizierte Zahlen als auch deren Interpretationen.
Alle „Unstatistiken“ finden Sie im Internet unter www.unstatistik.de. Jüngst erschienen im Campus Verlag ist das Buch „Warum dick nicht doof macht und Genmais nicht tötet - Über Risiken und Nebenwirkungen der Unstatistik“
Microsoft-Wissenschaftler, die mit Hilfe der Suchmaschine Bing Bauchspeicheldrüsenkrebs erkennen können? Die New York Times verbreitete bei Lesern Hoffnung mit einem Bericht, in dem es heißt, diese Früherkennung könne „die 5-Jahres-Überlebensrate der Patienten von 3 Prozent auf 5 bis 7 Prozent erhöhen.“ Dem Bericht zufolge durchsuchten Microsoft-Wissenschaftler die Suchanfragen von 6,4 Millionen Nutzern nach Symptomen wie unerklärlichem Gewichtsverlust und nach Risikofaktoren wie Alkoholabhängigkeit. Aus dem Muster der Anfragen wurden dann jene Nutzer vorhergesagt, die später anscheinend Krebs bekamen - was man aus Anfragen wie „Warum bekam ich Bauchspeicheldrüsenkrebs?“ erschloss. Auch die Süddeutsche Zeitung berichtete am 9. Juni über die „Krebsdiagnose aus der Suchmaschine“: „In 5 bis 15 Prozent der Fälle gelang ihnen die Früherkennung. Beeindruckender ist die sehr niedrige Zahl von Fehlalarmen. Von 10.000 Nutzern wurde weniger als einer fälschlicherweise als krebskrank eingestuft.“
Zu diesem Suchmaschinen-Gesundheitsmärchen sagen die Unstatistiker: Die Behauptung, die Suchmaschine Bing könne leben retten, ist falsch. Die Erklärung der Unstatistiker: „Ein Anstieg von 5-Jahres-Überlebensraten sage zunächst nichts darüber aus, ob Früherkennung leben rettet.“ Die Wissenschaflter haben ein Beispiel parat: Angenommen, 100 Menschen sterben im Alter von 70 Jahren an invasivem Krebs. Wenn diese nicht zum Screening gehen, wird der Krebs früher entdeckt und die 5-Jahres-Überlebensrate ist klein. Gehen sie zum Screening, wird der Krebs früher entdeckt und die 5-Jahres-Überlebensrate steigt an. In diesem Beispiel lebt also niemand länger, sondern nur länger mit der Diagnose.
Zudem zeigen den Unstatistikern zufolge viele Studien, dass höhere Überlebenschancen nach einem Screening nicht mit niedriger Sterblichkeit einhergehen. Die Wissenschaftler warnen: Die angebliche Lebensrettung durch Bing sei nur ein Trick, um Nutzer von Big Data zu überzeugen. Schließlich habe sie auch niemand gefragt, ob sie mit der Analyse ihrer persönlichen Daten einverstanden seien.
Big Business statt Medizinwunder
Auch die durch die Medien gelobte niedrige Zahl von Fehlarlarmen bei der Früherkennung können die Unstatistiker entkräften: „Nehmen wir 100.000 Nutzer von denen zehn unerkannt Bauchspeicheldrüsenkrebs haben. Bei einer Erkennungsrate von 10 Prozent (das Mittel aus 5 und 15 Prozent) erwarten wir, dass von diesen zehn nur einer als positiv klassifiziert wird, die anderen neun Krebse werden übersehen. Von den 99.990 Nutzern, die keinen Krebs haben, erwarten wir, dass zehn dennoch positiv eingeschätzt werden (die Falsch-Positiv-Rate von 1 in 10.000). Das heißt, von den insgesamt elf Personen mit positivem Ergebnis hat einer Bauchspeicheldrüsenkrebs und zehn haben keinen. Die meisten, die positiv getestet werden, werden also fälschlicherweise als krebskrank eingestuft.“ Selbst wenn die Falsch-Positiv-Rate klein sei, könne bei seltenen Erkrankungen wie dem Bauchspeicheldrüsenkrebs der Anteil der Falsch-Positiven an allen Positiven dennoch hoch sein.
Der vermeintliche Wunderdoktor Bing also in Wahrheit ein Scharlatan? Ähnlich hätten es die Internetkonzerne schon einmal versucht, erklären die Unstatistiker: Mit Google Flu Trends. Das Programm sollte 2009 aufgrund von Suchanfragen die Verbreitung von Influenza vorhersagen und als Paradebeispiel für den Erfolg von Big Data dienen. Heimlich still und leise sei es aber wieder beerdigt worden, da es über Jahre hinweg zu hohe Vorhersagen lieferte. Die Unstatistik schlussfolgert: „Big Data ist in erster Linie Big Business und nicht notwendigerweise bessere medizinische Versorgung.“
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