Moritz Ettl und Tobias Brockmann haben mit drei weiteren Partnern vor fünf Jahren die Beratung Forever Day One gegründet. Das Unternehmen entwickelt und begleitet neue Arbeits- und Bildungskonzepte. Zu den Kunden zählen Volkswagen, Signal Iduna, Deutsche Bank, Henkel, Hornbach.

Herr Ettl, Herr Brockmann, ist das Ausbildungssystem in Deutschland noch zeitgemäß?
MORITZ ETTL: Nein, leider nicht. Und daran werden auch Kampagnen und Tiktok-Filmchen nichts ändern, die viele Unternehmen und Verbände einsetzen, um das Image der Ausbildung aufzuwerten. Denn es gibt ein strukturelles Problem. Wir sehen bei unseren Projekten immer wieder, dass das Bildungssystem, von der Schule über die Ausbildung bis zur Weiterbildung, vor allem auf reine Wissensvermittlung ausgerichtet ist. Das ist aber nicht mehr zukunftsfähig, denn die Anforderung im Arbeitsalltag verändern sich rasant. Das erleben wir beispielsweise bereits in der Automobilindustrie oder im Energiesektor sehr deutlich. Was die Azubis im ersten Lehrjahr über Verbrennermotoren oder Gasheizungen lernen, werden sie am Ende ihrer Ausbildung nach drei Jahren vermutlich nicht mehr in der Praxis nutzen. Die Veränderungen durch Klimaschutzmaßnahmen, Digitalisierung und Künstliche Intelligenz werden radikale Auswirkungen auf viele Branchen und Berufe haben. Deshalb ist es so wichtig, dass in der Ausbildung Kernkompetenzen vermittelt werden, mit denen sich jeder Mensch schneller und besser weiterentwickeln kann, um fit für die Jobs der Zukunft zu sein.
Die meisten Unternehmen sind froh, wenn sie überhaupt noch Auszubildende finden. Stellen die Personalverantwortlichen das Ausbildungssystems denn überhaupt in Frage?
TOBIAS BROCKMANN: Die Diskussionen darüber fangen gerade erst an. Für Industrien, die schon mitten im Transformationsprozess stecken ist das naheliegend. Bei VW ist die Berufliche Bildung in Bewegung. Neue Berufe entstehen und müssen eingeführt werden. Bestehende Berufe verändern sich substanziell und müssen angepasst werden. Aber nicht nur die Ausbildungsinhalte müssen sich ändern, sondern auch das Ausbildungskonzept. Die Auszubildenden sollen dabei so qualifiziert werden, dass sie in ihren Jobs künftig eigenverantwortlich, lernfähig und veränderungsbereit sind, um für den kontinuierlichen Wandel in der Arbeitswelt gewappnet zu sein. Wir haben den Auftrag von VW vor anderthalb Jahren bekommen und seither entwickeln wir dieses neuartige Ausbildungskonzept.
Woher wissen Sie, wie das geht?
BROCKMANN: Als wir unsere Beratungsfirma vor fünf Jahren gegründet haben, hatten wir keine Lösung anzubieten, sondern eine Frage: Wie sieht die Zukunft der Arbeit aus und welche Rolle spielen die Menschen dabei? Wir sind mit Mikrofon und Kamera durch die Welt gereist, um überall mehr über innovative Bildungs- und Lernkonzepte zu erfahren. Wir haben 75 Experten in 20 Ländern interviewt. Daraus haben wir sehr viel Inspiration gezogen und neue Ansätze für Zukunftskompetenzen erkannt. Die haben wir seither bereits bei einigen großen Organisationen wie Deutsche Bank, Henkel oder Hornbach in die Personalentwicklung eingebracht. Das nun auch auf die Ausbildung zu übertragen, macht sehr viel Sinn.
Die Ausbildung hat in Deutschland eine lange Tradition, ist formalisiert und reguliert. VW hat selbst seit Jahrzehnten Tausende Mitarbeiter nach den klassischen Konzepten ausgebildet. Wie sind Sie den Neustart angegangen?
ETTL: Wir haben zunächst gemeinsam mit den Ausbildungsleitern bei VW alles infrage gestellt: Warum bildet VW überhaupt aus? Was müssen die Auszubildenden lernen, um die Zukunft der Mobilität mitzugestalten? Wie lernen Sie und wer lehrt? Wir haben quasi alles von Tag eins aus neu durchdacht.
BROCKMANN: Wir haben uns in dem Pilotprojekt zunächst auf ein neues Berufsprofil fokussiert, das VW mit zwei jungen Ausbildern eingeführt hat: Elektroniker und Elektronikerinnen für Informations- und Systemtechnik. Und wir haben gemeinsam ein sehr ambitioniertes Ziel formuliert: Die Auszubildenden sollen lernen, die Welt zu verändern. Das klingt sehr hochgegriffen. Aber von diesem Ziel aus konnten wir die entsprechenden Bausteine für den Ausbildungsverlauf ableiten: Welches Wissen ist nötig, welches nicht? Welche Kompetenzen sind für die Zukunft von VW essenziell und sollten bei den Mitarbeitern gestärkt werden? Natürlich müssen die Lehrlinge ein gutes Basiswissen vermittelt bekommen, um ihre Tätigkeiten nach der Ausbildung kompetent ausführen zu können. Das ist das kurzfristige Ziel. Gleichzeitig sollen sie die Freude am Lernen vermittelt bekommen, so dass sie langfristig Lust haben, sich immer wieder weiterzubilden und sich selbstständig zu verändern.

Wie haben Sie das dann praktisch in dem neuen Ausbildungskonzept umgesetzt?
BROCKMANN: Es gibt für diesen Lehrberuf rund ein Dutzend fachliche Schwerpunkte, die für den staatlich anerkannten Abschluss prüfungsrelevant sind. Dieses Wissen lassen wir nicht mehr in klassischen Lehrgängen mit Frontalunterricht, Pflichtlektüre und vorgegebenen Praxisübungen vermitteln. Stattdessen müssen die Auszubildenden sich das Wissen in kleinen Projektteams eigenständig in anderthalb bis zwei Wochen erarbeiten. Dazu haben wir agiles Lernen in strukturierten Prozessen eingeführt. Die Ausbilder begleiten und beobachten diesen Prozess. Sie helfen, die richtigen Fragestellungen und Informationsquellen zu einem Thema zu finden, sie überprüfen Zwischenergebnisse und unterstützen bei Rückschlägen und bei der Suche nach neuen Lösungen. So werden mit dem fachlichen Wissen gleichzeitig Kompetenzen wie Teamfähigkeit und Projektplanung entwickelt. Diese zehn bis zwölf Fachprojekte werden über die dreijährige Lehrzeit verteilt. Daneben gibt es jeweils Projekte und Workshops zu vorgegebenen und selbst gewählten Themen wie Nachhaltigkeit, Kreativität und Lernfähigkeit. Am Ende hat jeder und jede Auszubildende einen großen, individuellen Lehrplan mit vielen unterschiedlichen Bausteinen. Solche agilen Methoden sind im Projektmanagement vieler Konzerne bereits Standard. Für die Ausbildung ist das ein revolutionärer Ansatz.
Was ist für den Erfolg des Konzepts ausschlaggebend?
BROCKMANN: Es steht und fällt mit den Ausbildern. Ihre Rolle ändert sich in so einem Lern- und Lehr-Konzept signifikant. Sie müssen die Auszubildenden auffangen, wenn sie nicht vorankommen oder scheitern. Solche Unsicherheiten müssen die Ausbilder aushalten können. Wenn der Lehrplan nicht mehr optimal greift, müssen sie strategisch denken und Lösungen finden. Wir schulen sie sehr intensiv über neun Monate. Wir wollen sie befähigen, die besten Lernbegleiter zu sein.
ETTL: Es ist für alle Beteiligten eine große Umstellung. Auch für die Auszubildenden, die in der Schule Frontalunterricht und klare Anweisungen gewohnt waren und das vielleicht auch bequemer finden als das eigenständige, projektbasierte Lernen. Und auch für die Lehrer an den Berufsschulen ist es eine Herausforderung mit unserem Ausbildungskonzept mitzugehen, während ihr Unterricht noch in traditionellen Strukturen verhaftet ist. Da sehen wir noch großen Handlungsbedarf. Aber es gibt Vertreter von Berufsschulen, von den Industrie- und Handelskammern und Arbeitnehmervertreter, die sehr interessiert an unserem Konzept sind und erkennen, dass es dafür auch mehr Freiraum und Veränderungen in den Lehrplänen und Prüfungsordnung geben muss.
Wie viele Auszubildende durchlaufen das neue Konzept bei VW und wie geht es weiter?
BROCKMANN: Wir sind 2021 mit den ersten zwölf Ausbildern und Ausbilderinnen gestartet, 2022 hat der zweite Jahrgang mit 16 Ausbildern angefangen. Spannend ist, dass wir mit unserem Pilotprojekt im E-Kompetenzzentrum von VW in Wolfsburg angesiedelt sind. Das ist eine Halle, die so groß wie drei Fußballfelder ist. Die ist sehr flexibel und offen gestaltet mit einer großen Projektfläche in der Mitte, drum herum separate Räume mit Lehrmitteln. In dieser Halle werden 200 Elektroniker und Elektronikerinnen ausgebildet – jahrgangsübergreifend, mit verschiedenen Berufsprofilen. Und wir sind mit unserem neuartigen Konzept mittendrin und übertragen das nun auch auf andere Ausbildungsberufe. Wir wollen in dieser Halle das erste Beispiel für die Zukunft der Ausbildung bauen.
ETTL: Das findet bereits große Aufmerksamkeit. Bundesarbeitsminister Hubertus Heil war im vergangenen Sommer mit einer Delegation der G7-Arbeitsminister dort. Ebenso Gesandte der USA, für die das deutsche Ausbildungssystem als Vorbild gilt. Und auch Personalvertreter anderer Unternehmen schauen sich an, was in dieser Halle passiert. Wir bekommen auch Anfragen von anderen Konzernen, die innovative Ausbildungskonzepte einführen wollen – etwa von einem großen US-Finanzdienstleister.
Ist dieses Ausbildungskonzept den für jedes Unternehmen geeignet?
ETTL: Das VW-Programm ist sicher keine Blaupause, die man so auf jedes Unternehmen kopieren kann. Wir passen unsere Programme immer auf die Situation unserer Kunden an und entwickeln gemeinsam mit den Ausbildern und Fachexperten vor Ort die Konzepte. In der Regel ist das für Unternehmen mit 50 Auszubildenden pro Jahrgang sinnvoll und für eine Gruppe von 15 bis 20 Ausbildern. Für kleinere Unternehmen eignen sich solche Programme am ehesten, wenn sie bei solchen Konzepten kooperieren oder künftig möglicherweise über die Berufsschulen eingebunden werden. Hier müsste die Bundesregierung mit Reformen und Investitionen ansetzen, um innovative Ausbildungskonzepte dann auch flächendeckend umzusetzen. Jetzt wäre der richtige Zeitpunkt dafür.