Fredmund Malik gehört zu den renommiertesten Managementexperten. Er ist Professor der Uni St. Gallen und Inhaber der nach ihm benannten international tätigen Institution für Komplexitätsmanagement, Governance und Leadership. Soeben erschienen ist sein neues Buch „Navigieren in Zeiten des Umbruchs. Die Welt neu denken und gestalten“, Verlag Campus, Frankfurt a.M.
Unzählige Unternehmen und Organisationen – jeder Art und Größe – müssen grundlegend erneuert, umgebaut und neu ausgerichtet werden, weil sie den Anforderungen der nun immer rascher entstehenden Neuen Welt nicht mehr genügen. Ihre bisherigen Methoden und Instrumente, ihre Führungssysteme und Organisationsformen verlieren immer mehr an Funktionstüchtigkeit. Für die Art von Neuland, mit der Organisationen heute konfrontiert sind, gibt es ein zentrales Navigationsprinzip: Sei dem Wandel voraus! Substituiere dich selbst! Tust du es nicht, dann tun es andere – geschehen wird es so oder so.
Dafür braucht man eine neue Art von Management in drei verschiedenen Anwendungen. Ein Unternehmen muss sein bisheriges Geschäft betreiben so lange wie nötig, so lange wie möglich – aber zugleich das neue Geschäft entwickeln, das in die Zukunft führt. Es sollte seine Anstrengungen vor allem darauf lenken, die Transformation von „Alt“ zu „Neu“ selbst zu meistern. Dafür gibt es aber keinen festen vorgezeichneten Plan, wohl aber Navigationspunkte und Regeln des richtigen Handelns. Gebraucht wird die Bereitschaft zu explorieren, mit Überraschungen umzugehen, flexibel zu bleiben und das Ziel nicht aus den Augen zu verlieren. Man kann sich nicht mehr verlässlich auf konkrete Situationen vorbereiten, weil es vorhersagbare Realitäten nicht mehr gibt. Analytisch reduktionistische oder mechanistische Problemlösungsparadigmen werden den komplexen Systemen unserer Gesellschaft nicht gerecht.
Herkömmliches Management kann die Anforderungen, die diese Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft mit sich bringt, schon länger nicht mehr wirklich erfüllen. Die herkömmliche Art zu führen wird aber noch vielerorts aufrechterhalten mit viel Improvisation, gutem Willen und zwangsläufig mit Kraft- und Geldverschwendung.
So gut wie alle sozialen Funktionsmechanismen in Wirtschaft und Gesellschaft verändern sich gerade grundlegend, global und irreversibel. In wenigen Jahren wird fast alles anders sein: was wir tun, wie wir es tun und warum wir es tun; wie wir produzieren und konsumieren, wie wir arbeiten, wie wir lernen und forschen – und wie wir leben.
Die so oft erwähnte Digitalisierung ist in dieser großen Transformation nur eine von vielen Treibern. Es reicht deshalb nicht, sich nur mit der Digitalisierung auf der Sachebene auseinanderzusetzen. Es reicht nicht, sich mit den neuen Möglichkeiten des digitalen Arbeitens unserer Komplexitätsgesellschaft vertraut zu machen. Das mag ein Beginn sein. Führungskräfte von heute müssen wissen, dass ihre Wirksamkeit in den ständig komplexer werdenden Organisationen unserer Gesellschaft neu gefordert ist. Nötig ist eine Strategie für das Management komplexer Systeme.
Navigationsprinzipien für Neuland
Quer durch die Unternehmen sind Menschen herausgefordert, umzudenken und umzulernen, mit Veränderung und Vielfalt, mit Vernetzung und offenen Systemen, mit Dynamik und hohem Tempo zurechtzukommen. Für eine neue Wirksamkeit von Organisationen braucht es eine neue Sozialtechnologie, es braucht effektives Management. Dies wird unter anderem darin bestehen, nicht nur in den allgegenwärtigen Algorithmen zu operieren. Der österreichische Humanbiologe Rupert Riedl formulierte es schon vor vielen Jahren ganz klar – Algorithmen sind für unsere Welt zu einfach. Im Management geht es vielmehr um Lenkung, Steuerung und Gestaltung, deren Wirkungsweise gerade darauf abzielt, mit der Vielfalt unserer Komplexitätsgesellschaft richtig umzugehen. Nur so können wir Komplexität als Rohstoff nutzen, um unsere Gesellschaft von ihren verknöcherten Organisationen zu befreien und neue Wege zu einem neuen Denken und zu einem besseren Funktionieren zu finden.
Algorithmen sind so alt wie die Mathematik. Ihre große Schwester, die Heuristik, ist noch älter und wird gerade im Zusammenhang mit dem Aufbruch in der großen Transformation und Exploration noch wichtiger werden. Algorithmen sind Schrittfolgen für das verlässliche Auffinden eines genau spezifizierten Ziels. Heuristiken hingegen sind Schrittfolgen für das Aufspüren von Richtung und Nähe eines Zieles, das man nicht genau bestimmen kann. Man weiß zwar, was das Ziel ist, aber nicht wo es ist.
Das klingt so vielleicht etwas abstrakt. Anhand von Spielen wird es aber gut verständlich. In jedem Spiel gibt es Regeln, die definieren, wie man spielt. Das sind Algorithmen. Es gibt aber auch Regeln dafür, wie man gewinnt. Das sind Heuristiken. Im Gegensatz zu zufälligen Suchprozessen helfen Heuristiken ein unbekanntes Ziel durch gezielte Exploration zu erreichen.
die Zahl der Möglichkeiten vermehren
Sei dem Wandel voraus! Das ist ein heuristisches Prinzip, das mich anleitet, selbst den Handlungsablauf zu bestimmen oder zumindest mitzubestimmen, um nicht in Zugzwang zu geraten. Dieser Grundsatz muss das Denken und Handeln wirksamer Führungskräfte im Umbruch immer begleiten.
Ein anderes Beispiel für ein wichtiges heuristisches Prinzip der Lagebeurteilung im Ungewissen ist der Grundsatz des offenen Systems: Rechne stets mit dem Unvorhersehbaren, dem Unerwarteten und dem Unvorstellbaren! Auf einer Notfallambulanz ist man auf unvorhersehbare Entwicklungen eingestellt. In vielen anderen Organisationen, auch in Unternehmen aber noch lange nicht. Zu viele Führungskräfte, obwohl sie es nicht zugeben, glauben doch noch an die prinzipielle Planbarkeit des Geschäftes und an die Konstanz von Menschen und Märkten.
Verhalte dich stets so, dass sich die Zahl der Möglichkeiten vermehrt! Diesen sogenannten „kybernetischen Imperativ“ formulierte der österreichische Kybernetiker Heinz von Foerster. Er bedeutet praktisch: Triff Entscheidungen so, dass dir nach einer Entscheidung mehr Wege offenstehen als vorher. Umbrüche, wie wir sie heute erleben, eröffnen Möglichkeiten, indem sie Altes verdrängen und Neues schaffen. Und Management, wie ich es verstehe, ist jene gesellschaftliche Funktion, diese Möglichkeiten zu nutzen.
Die richtige Strategie des Managements komplexer Systeme basiert auf dem Einsatz einer Vielfalt von Verhaltensweisen, die durch die Befolgung von heuristischen Grundsätzen, also von Regeln des erfolgreichen Suchens, entsteht. Im Gegensatz zu rein zufälligen Suchprozessen helfen Heuristiken im Unbekannten zu navigieren und mit offenen Ergebnishorizonten zu arbeiten. Das sichert die Funktionstüchtigkeit einer Organisation durch das Meistern von Komplexität.
Ergebnisse entstehen
Am Beispiel der Musik kann man das vielleicht am besten darlegen. Die klassische Symphonie ist „durchkomponiert“. Ihre Partitur steht unveränderbar fest und enthält jede Note und jede Pause. Sie kann höchst schwierige Stellen haben, aber es gibt keine Überraschungen. Eine klassische Symphonie ist nicht komplex, kann aber sehr kompliziert sein. Die Neue Welt und der Übergang zu dieser sind aber komplex, sie sind nicht „durchkomponiert“. Sie haben keine gegebene Partitur. Sie sind wie Symphonien, deren Partitur beim Spielen entsteht. Ein Paradigma dafür ist die Jazzmusik. Sie improvisiert, aber keineswegs unstrukturiert oder gar willkürlich, obwohl es für viele so aussah und sich im Free Jazz so anhörte, solange man die Strukturen nicht erkannte und die Patterns nicht wahrnehmen konnte. So ist auch die Evolution. Die Regeln ihres Prozesses sind naturgesetzlich gegeben. Aber ihre Ergebnisse entstehen.
Und es ist, wie Karl Popper, der Begründer der Philosophie des kritischen Rationalismus feststellte, gerade unser Verständnis der Welt, das die Bedingungen der sich wandelnden Welt beeinflusst.