Liebe Frau Wagenknecht, lieber Herr Thierse: Das hätte ich ja nicht gedacht, dass ich mit Ihnen als politische Granden der Alt-Linken jemals einer Meinung sein würde. Aber Sie beide haben Diagnosen der aktuellen gesellschaftspolitischen Debatten abgeliefert, denen ich sehr viel abgewinnen kann …
Spitz beobachtet
Sie, Herr Thierse, haben zum Beispiel auf Identitätsbildung hingewiesen , verbunden mit einer starken Moralisierung von Debatten, auch in Ihrer eigenen Partei – und ironischerweise ließ Ihre Parteichefin Saskia Esken umgehend verlauten, Sie sollten sich dafür schämen. Es ist ihr gelungen, Ihre Aussage mit einem einzigen Satz zu bestätigen.
Und Sie, Frau Wagenknecht, sprechen von der Gruppe der „Lifestyle-Linken“, die statt auf Problemlösung lieber auf moralische Überheblichkeit gegenüber allen anderen setzt, was der ur-linken Sache überhaupt nicht diene. Spitz beobachtet – auch wenn die meisten Ihrer Schlussfolgerungen … wie drücke ich es diplomatisch aus … mit mir nicht räsonieren.
In der Diagnose jedenfalls sind wir drei uns einig: Im öffentlichen Diskurs hat die Identitätszuweisung als Argument überhandgenommen, die eine Spaltung der Gesellschaft eher vorantreibt und sachgetriebene Debatten nicht nur überlagert, sondern oft sogar unmöglich macht.
Doch bevor Sie, lieber Leser, dieser Beobachtung nun zustimmen oder sie als absurd abtun: Warten Sie einen Augenblick. Denn das Phänomen finden Sie auch in den meisten Unternehmen und vielleicht sogar in Ihrem.
Identitäts-Artikel
In vielen Unternehmen, vor allem in den etwas größeren, wird etwas par excellence betrieben, was ich hier mal als „Management by Identity“ bezeichnen möchte. Das lässt sich an der Sprache ablesen: Da ist von „DEM Mitarbeiter“ zu hören, der sich gegen nötige Veränderungen sträubt. Oder von „DEM unflexiblen mittleren Management“, also „DER Lähmschicht“. Oder von „DEM Kunden“, der angeblich so wankelmütig und anspruchsvoll geworden ist. So als wären diese Gruppen in sich homogen.
Dass das moralisch fragwürdig ist, schiebe ich hier mal ganz beiseite, denn es geht mir um etwas anderes. Es geht mir um zwei Fallen, in die Sie tappen, wenn Sie im Unternehmen auch in tiefergehenden Diskussionen um Problemlösungen unhinterfragt mit solchen komplexitätsreduzierenden Denkweisen arbeiten: die Spielfeldfalle und die Personifizierungsfalle.
Achtung: Spielfeldfalle
Spielen die Identitäten bei Ihrer Diskussion eine Rolle, eröffnen Sie damit in Ihrer Kommunikation ein zweites Spielfeld, nämlich das der Gruppenzugehörigkeit. Sie sprechen plötzlich darüber, wer zur Gruppe gehört und wer nicht, oder welche Messgrößen die Zugehörigkeit belegen können. Oder die Debatte kreist sich um Begriffe: welche sind moralisch anständig und gruppenkompatibel und welche nicht. Es wird versucht einzugrenzen, welche Gruppe an dem Problem im Kern schuld ist.
Diejenigen, die beschuldigt werden oder beschuldigt werden könnten, werden sich natürlich wehren. Sie fühlen sich unter Generalverdacht gestellt, sprechen vielleicht davon, wie unterkomplex dieses Thema hier angegangen wird – oder dass die vermeintliche Opfergruppe doch gar keinen Opferstatus habe. Es wird über den Zuschnitt der Gruppen gestritten, über die Eigenschaften dieser Gruppe, über die Zugehörigkeit einzelner.
Über was Sie die ganze Zeit NICHT sprechen: Was sind die eigentlichen Ursachen für das Problem und was sind nur Symptome? Was gibt es zu tun, um das Problem zu lösen? Was hätte das für Vorteile, Nachteile und Konsequenzen? Dafür bleibt nämlich kaum Zeit. Klar, denn Sie bewegen sich ja die ganze Zeit auf dem zweiten kommunikativen Spielfeld – dort, wo es gar nicht um das Problem selbst geht.
Achtung: Personifizierungsfalle
Die zweite Falle ist die Personifizierungsfalle, denn die Gruppen werden als Kollektiv verstanden. Es sind natürlich Menschen, die diese Gruppen formen. Also kleben die den Gruppen zugedachten Klassifizierungen immer auch an den einzelnen Personen. Sie persönlich sind entweder Verursacher oder Leidtragender, Täter oder Opfer des Problems mit klar zugeschriebenen Eigenschaften.
Sie gehören vielleicht zur Generation Y, die angeblich nicht arbeiten, sondern nur nach Sinn suchen will, oder zu den fleißigen Babyboomern. Sie gehören zu den – anhand äußerst fragwürdiger Messinstrumente oder rein subjektiv ermittelten – Low oder High Performern. Sie gehören zu der rar gesäten Gruppe der Veränderungswilligen oder zu der weitaus größeren Gruppe der Verhinderern. Sie gehören zu den Impulsgebern oder zur zähen Masse.
Doch allein schon die Schlussfolgerung, dass es für jedes Problem jemanden geben muss, der es ausgelöst hat, ist äußerst wackelig, wenn nicht sogar hanebüchen.
Da muss doch jemand dahinter stecken!
Denn wie so viele Dinge im Leben passiert auch im Unternehmen das meiste sprichwörtlich hinter dem Rücken der Akteure: Diese Dinge entwickeln sich zufällig oder aus den Gegebenheiten des institutionellen Rahmens heraus. Und irgendwann schauen alle verdutzt auf das Ergebnis und fragen sich: Huch, wie konnte uns denn das passieren? Das wollten wir doch gar nicht.
Das „Management by Identity“ möchte aber trotzig daran glauben, dass jede Ordnung immer durch eine „ordnende Hand“ entstanden ist. Und dass auch eine Unordnung oder Ungerechtigkeit oder Ungleichheit irgendjemand gewollt und gemacht haben muss.
Aus diesem trotzigen Glauben entsteht übrigens typischerweise der Tatbestand der Verschwörungsgeschichten: Da muss doch jemand dahinter stecken! Irgendeiner, der eine geheime Agenda hat! Wenn ich dieser Überzeugung bin und nicht weiß, wie diese Agenda aussieht, muss ich eben eine erfinden.
Ironischerweise geht daraus eine neue Gruppe hervor mit scheinbar einheitlicher Identität: „DIE Verschwörungstheoretiker“ - obgleich diese Narrative so rein gar nichts mit einer Theorie gemein haben.
Die Anhänger des „Management by Identity“ übersehen ebenso wie Verschwörungstheoretiker, dass das, was als problematisches Verhalten von Menschen gesehen wird, – egal ob in der Gesellschaft oder im Unternehmen –, meist eine Lösung für ein ganz anderes Problem ist. Sonst würden diese Menschen sich nicht dauerhaft so verhalten.
Reparieren statt ergründen?
Wenn Sie also das echte Problem lösen wollen – zum Beispiel zu wenig Umsatz oder Ertrag, zu langsame Innovationen, zu geringe Geschwindigkeit, unzufriedene Kunden, zu schlechte Qualität –, müssen Sie zunächst detektivisch ergründen, welches andere Problem mit dem vermeintlich unsinnigen oder schädlichen Verhalten der Akteure gelöst wird. Warum verhalten sich die Mitarbeiter oder die Kunden so, wie sie sich verhalten?
Dahin müssen Sie aber erst einmal kommen. Denn wenn Sie nicht ahnen, dass es dieses andere Problem überhaupt gibt, bleibt nur ein Erklärungsmuster übrig: Die Gruppe der vermeintlich mangelhaften Akteure selbst muss das Problem sein. Denn wo sonst sollte die Ursache liegen?
Wenn es „die da oben“ sind, werden Sie also gemeinsam mit Kollegen über die schimpfen und damit auf jeder Betriebsfeier trunkene Solidarität ernten. Wenn es die „Lähmschicht des Mittel-Managements“ ist, werden Sie Führungsprogramme auflegen. Wenn es die veränderungsunwilligen Low-Performer sind, werden Sie ihnen Mindset-Trainings verordnen. Sie betreiben also aktives „Management by Identity“ und bemühen sich, die jeweilige Gruppe irgendwie zu „reparieren“.
Diese Maßnahmen nützen nicht nur nichts, sie sind in vielerlei Hinsicht sogar schädlich. Sie ernten Zynismus, Business-Theater und Abkehr von der Wertschöpfung. Der größte Schaden dieser naiven Komplexitätsreduzierung ist jedoch, dass Sie gar nicht soweit kommen, an der Lösung für das eigentliche Problem zu arbeiten.
Können Sie sich das in Ihrem Unternehmen wirklich leisten?
Lars Vollmer ist Unternehmer, Vortragsredner und Bestsellerautor. In seinem Buch „Der Führerfluch – Wie wir unseren fatalen Hang zum Autoritären überwinden“ stellt er den Krisen in unserem Land Selbstorganisation und die Idee einer Verantwortungsgesellschaft entgegen. Hier finden Sie weitere Kolumnen von Lars Vollmer