Das Modell, vier Tage pro Woche zu arbeiten und drei Tage frei zu haben, scheint in der Pandemie weiter Fahrt aufzunehmen. Die Beschäftigten in Belgien gehören nun zu denen, die nicht mehr nur davon träumen müssen. Mit der beschlossenen Arbeitsmarktreform haben die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer künftig das Recht auf eine verkürzte Arbeitswoche. Es gilt: voller Lohnausgleich, allerdings auch volle Stundenzahl.
Ziel der Reform ist eine dynamischere und produktivere Wirtschaft. Die Beschäftigungsquote in Belgien liegt derzeit bei vergleichsweise niedrigen 71 Prozent. In Deutschland lag die Quote zuletzt bei 75,5 Prozent. Belgien peilt jetzt 80 Prozent bis 2030 an. "Wenn man unser Land mit anderen vergleicht, stellt man fest, dass wir weit weniger dynamisch sind", erklärte Belgiens Premierminister Alexander de Croo. „Nach zwei schwierigen Jahren hat sich der Arbeitsmarkt weiterentwickelt. Mit dieser Vereinbarung setzen wir die Maßstäbe für eine gute Wirtschaft.“
Die Pandemie beschleunigt den Wandel in der Arbeitswelt. Nicht nur hybrides Arbeiten ist gesellschaftlich akzeptabel geworden. Im Homeoffice zu arbeiten, bedeutet kein Verdrückertum mehr. Tatsächlich belegen erste kleine Studien, dass die Produktivität dadurch sogar erheblich gesteigert werden kann. Auch der Trend zur Vier-Tage-Woche verfestigt sich, wie es scheint.
Experimentiert hatten damit bislang vor allem skandinavische Länder. Mit Belgien ist es erstmals ein Land aus der Mitte Europas, das mit einem entsprechenden Arbeitsmarktgesetz Fakten geschaffen hat. Island hatte bereits nach zwei Testläufen von 2015 bis 2021 das Modell als positiv bewertet: Produktivität und Leistung der Arbeitnehmer war konstant, es fielen nicht übermäßig viele Überstunden an. Und auch die Umstellung war nicht so aufwändig wie erwartet. Einen angenehmen Nebeneffekt für die Arbeitgeber gab es außerdem: Die Beschäftigten ließen sich weniger krankschreiben.
Island und Spanien machens vor
Auch Spanien hat im vergangenen Herbst den ersten Schritt gewagt. Rund 6000 Beschäftigte in 2000 überwiegend mittelständischen Unternehmen starteten ein Modellprojekt über ein Jahr. Wie in Belgien geht es darum, Vollzeitarbeitsplätze zu schaffen und vor allem jungen Spaniern, die in prekären Arbeitsverhältnissen feststecken, den Absprung zu ermöglichen.
Im Unterschied zu den Beschäftigten in Belgien sollen die Spanier aber nicht nur an weniger Arbeitstagen, sondern auch insgesamt weniger Stunden arbeiten. Das gilt auch in Island. Auch hier wird - anders als in Belgien - weniger Einsatz von den Beschäftigten erwartet. Das kleine Land hatte mit 39,2 Stunden lange eine vergleichsweise hohe durchschnittliche Wochenarbeitszeit. Die soll durch die Vier-Tage-Woche abgebaut werden.
Sowohl die isländische, als auch die spanische Regierung halten das reduzierte Zeitpensum sowohl für den Arbeitsmarkt, als auch für die Wirtschaft für vorteilhafter. Der Anreiz für Unternehmen, neue Stellen zu schaffen, sei größer. Die Entscheidung in Spanien wurde dadurch erleichtert, dass der Lohnausgleich für die Beschäftigten für die Dauer des Pilotprojekts durch staatliche Zuzahlungen beglichen wird.
Selbst große Konzerne haben gute Erfahrungen mit der Vier-Tage-Woche – „für lau“ – gemacht. Microsoft beispielsweise legte 2019 positive Ergebnisse in Japan vor. Die Mitarbeiter der Firmenzentrale in Tokio bekamen einen Monat lang jeden Freitag frei - als eine Art „besonderer bezahlter Urlaub“. Regelrecht verblüffend war die Produktivitätssteigerung der Beschäftigten, die sich um insgesamt rund 40 Prozent verbessert haben soll. In Japan erregte das Thema viel Aufmerksamkeit, da das Land bekannt ist für seine harten Arbeitsbedingungen und vielen Überstunden.
Vier-Tage-Woche reicht nicht mehr
Nicht nur viele Beschäftigte, auch Arbeitsmarktexperten halten die Fünf-Tage-Woche nach knapp 70 Jahren in der sich schnell verändernden Arbeitswelt für überholt. Nachdem der Deutsche Gewerkschaftsbund in Deutschland 1955 die 40-Stundenwoche forderte und ein Jahr später die Kampagne „Samstags gehört Vati mir“ startete, begann in Deutschland ab 1956 der Übergang von der Sechs- zur Fünf-Tage-Woche. Seitdem hat sich viel getan. Industrieländer haben den Schritt von der Sechs-Tage-Woche auf die Fünf-Tage-Woche gut verkraftet. Warum sollte es also nicht so weitergehen?
Befürworter kürzerer Arbeitszeiten argumentieren nicht nur mit einer höheren Zufriedenheit der Beschäftigten durch gesundheitliche und soziale Vorteile, die für den Menschen wie den Beruf förderlich sind. Sie verweisen auch auf die Verdichtung der Arbeit in den vergangenen Jahren durch Personalabbau, Digitalisierung und Künstliche Intelligenz. Der Alltag ist schneller geworden und die Arbeit effektiver. Die Beschäftigten könnten jetzt davon profitieren.
Die Pandemie liefert ein weiteres Argument: Die Experten sagen einen historischen Exodus an Arbeitskraft voraus, der sich schnell zu verstärken scheint. Derzeit fehlen in Deutschland laut der Bundesagentur für Arbeit etwa 1,2 Millionen Arbeitskräfte, davon zwei Drittel Fachkräfte. Es fehlt akut an Pflegepersonal, offene Stellen in der IT-Branche sind längst ein kritisches Thema.
Darüber hinaus mangelt es aber auch an Arbeitskräften für einfache Dienstleistungen. Allein in den USA haben elf Millionen Menschen den Arbeitsmarkt während der Pandemie verlassen. „The Big Quit“ wird das Phänomen genannt. Auch das Brexit-geschwächte Großbritannien ächzt unter dem Mangel an Arbeitskräften. Der Wettbewerb um Mitarbeiter wird immer härter.
Der Umgang mit den Menschen im Unternehmen, sagen Experten voraus, wird in Zukunft erfolgskritisch werden. Wenig überraschend werden im Bankensektor mittlerweile hohe Boni und Vergünstigungen für Investmentbanker ausgelobt. Unternehmen müssen erfinderischer werden. Zwar lassen sich verschiedene Branchen nicht über einen Kamm scheren, aber es werden wohl eher diejenigen besser fahren, die vollen Lohnausgleich bei weniger Arbeitszeit bieten.
Der Beitrag ist zuerst erschienen auf ntv.de