Der Blick auf die Zahlen ist klar: Auch, wenn sich viel bewegt, sind die Führungsetagen deutscher Unternehmen immer noch sehr männlich und sehr weiß geprägt. Auch wenn derzeit mit 17 Prozent Frauen so viele weibliche Vorstände wie noch nie Unternehmen führen – ein Anstieg von 4 Prozent im Vergleich zu 2021 – machen immer noch viele Frauen die Erfahrung: Je höher sie steigen, desto männlicher wird das Arbeitsumfeld.
Chancengleichheit bedeutet, dass alle Menschen die gleichen Wahrscheinlichkeiten haben, wenn es um die Gestaltung ihres beruflichen Lebenswegs geht: egal, woher sie kommen, wie sie ausschauen oder welchem Geschlecht sie sich zuordnen. Denn der Blick auf die Zahlen lässt nicht nur Mathematiker staunen: In der Schule sind Mädchen erfolgreicher als Jungen, über die Hälfte der Abiturientinnen sind weiblich, während Jungs bei den Schulabbrechern überwiegen.
Im vergangenen Jahr haben zum ersten Mal mehr Frauen als Männer studiert, auch wenn sich das Verhältnis seit Jahren über alle Studiengänge hinweg um die 50:50 bewegt. Was passiert zwischen Schul- bzw. Universitätsabschluss und der Vorstandsposition, dass die stochastischen Wahrscheinlichkeiten derart aushebelt?
1. Die Mutter-Crux
Frauen kriegen eben die Kinder – die einfache Antwort auf den Unterschied zwischen den Geschlechtern. Das tun sie aber in anderen Ländern auch – und dennoch tragen zum Beispiel in Dänemark Mütter 42 Prozent zum Familieneinkommen bei, in Deutschland sind es 22,4 Prozent – Schlusslicht unter den OECD Ländern. Der Satz „Das Kind gehört zur Mutter“ ist in Deutschland auch historisch verankert: Im Kaiserreich mussten sich Frauen z.B. im „Lehrerinnen-Zölibat“ zwischen Beruf und Familie entscheiden. In der Nazi-Zeit war das Ziel der weiblichen Erziehung „unverrückbar die kommende Mutter zu sein“, der Muttertag ein offizieller Feiertag, ab 1938 gab es das Mutterkreuz.
77 Prozent aller Menschen in Deutschland finden laut einer Studie aus dem Jahr 2015, dass eine Mutter nachmittags Zeit haben sollte, um ihrem Kind beim Lernen zu helfen, 88 Prozent halten das für die geltende Annahme. Und die Mutter-Obsession wird weitergegeben: Laut einer Studie des Wirtschaftsforschungsinstituts IFO gehen 58 Prozent der Frauen im Teenager-Alter heute davon aus, dass sie später für die Familie im Beruf deutlich kürzertreten werden – bei den Jungen sind es nur 16 Prozent. Andersrum ist erkennbar, dass in den Bundesländern der ehemaligen DDR – wo die erwerbstätig arbeitende Mutter die Regel war – der Gender Pay Gap heute nur halb so groß ist wie in den alten Bundesländern.
Für die Annahme, dass die Mutter der bessere, ja sogar auch nach Geburt und Stillzeit der biologisch geeignetere Elternteil sei, gibt es keinen Beleg. In früheren Kulturen wurden Kinder vom ganzen Stamm aufgezogen, die Mutter selbst ging schnell wieder ihrer Tätigkeit nach. Auch hält die Aufteilung mit dem Mann in der Versorgerrolle und der Frau als emotionale Bezugsperson Männer in Rollenbildern gefangen und verhindert in vielen Fällen eine gleichberechtigte Eltern-Kind-Beziehung.
Kinderkriegen müsste also kein Karrierekiller sein – ist es aber leider oft. Mit Teilzeit kommt nicht nur weniger Gehalt, sondern auch geringere Aufstiegschancen. Übrigens aber nur für Frauen: 59 Prozent der Männer, die sich entscheiden eine Auszeit zu nehmen oder in Elternzeit zu gehen, machen danach einen Karrieresprung.
2. Rollenbilder
Laute Mädchen nerven – dieses Bild haben viele junge Frauen mitbekommen. Denn Männer sind zumindest statistisch gesehen deutlich redefreudiger als Frauen: In Meetings nehmen sie laut einer Studie der Brigham Young University aus dem Jahr 2012 drei Viertel des Redeanteils ein. Schon in der Schule riefen Jungen in einer Studie von Myra und David Sadker acht Mal mehr ungefragt Antworten rein, während Mädchen sich meldeten.
Für viele Mädchen ist die höchste soziale Währung, gemocht zu werden. Konflikt und Kooperation sind etwas, das sich in der weiblichen Sozialisierung ausschließt: Zwischen Hanni und Nanni auf der einen und Schneewittchen und der bösen Stiefmutter auf der anderen Seite gibt es wenig.
Jungen lernen früh, dass man sich morgens kloppen und abends wieder miteinander befreundet sein kann. Gerade in Führungspositionen sind Konflikte notwendig – auch Sichtbarkeit kann helfen, den nächsten beruflichen Schritt zu machen. Sich zurückzunehmen, schadet daher – sich sichtbar zu machen, „laut“ zu werden und in Konflikte einzutreten, aber auch: Denn es stört Stereotype und Rollenbilder, die wir haben und die bestimmen, was wir als „typisch weiblich“ oder „typisch männlich“ empfinden.
Das Heidi-Howard Experiment an einer amerikanischen Uni ist ein tolles Beispiel für Geschlechts-Stereotype: Eine Uni-Klasse bekam einen identischen Lebenslauf, Top-Uni, eine erfolgreiche Karriere im Investment-Banking. Der einzige Unterschied: Über dem einen Lebenslauf stand der männliche Vorname „Howard“, über dem anderen „Heidi“. Die Studenten wurden gefragt, für wen sie gerne arbeiten würden. Die Howard-Gruppe schätzte den Mann hinter dem Lebenslauf als leistungsbereiten, sympathischen, authentischen Unternehmer ein. Heidi wurde wiederum als zu ehrgeizig, sozial defensiv und insgesamt eher schwierig eingeschätzt – während fast alle für Howard arbeiten wollten, wollte fast keiner zu Heidi.
3. Netzwerke
Netzwerke sind zu jedem Zeitpunkt einer Karriere enorm entscheidend – sei es dabei, während der Ausbildung die richtigen Arbeitserfahrungen zu sammeln, im Job erfolgreich zu sein oder den nächsten Karrieresprung zu schaffen.
Netzwerke sind einer der Gründe, warum soziale Herkunft ein bestimmender Faktor in beruflichen Lebensläufen ist: Wer von zuhause aus jemanden kennt, der jemanden kennt, hat andere Startvoraussetzungen.
Doch es gibt auch Unterschiede im Netzwerkverhalten von Frauen und Männern. Während Männer beispielsweise viel wahrscheinlicher andere Männer für Positionen empfehlen, schrecken Frauen hier eher zurück – aus Angst, es könne negativ auf sie zurückfallen, wenn die Empfehlung nicht gut ankommt. Ein weiterer Faktor ist aber auch, dass Netzwerke sich selbst reproduzieren: Wir sind gerne mit Menschen zusammen, die uns ähnlich sind und fördern Menschen, in denen wir uns selbst sehen. Aus diesem Phänomen stammt der von der AllBright Stiftung benannte Effekt des „Thomas-Kreislaufs“, der dazu führt, dass Vorstände in ihrer Nachfolgeplanung jüngere Versionen ihrer selbst fördern.
Auch hier kommt wieder der Effekt von Kooperation und Konflikt zum Tragen: Während Männer sich auch mit Männern vernetzen, die sie nicht zu 100 Prozent gut finden, sind Frauen selektiver. Auch wenn in vielen Unternehmen „Boys Clubs“ zu beobachten sind – Gruppen von Männern, die sich gegenseitig mit Informationen versorgen und unterstützen – gibt es „Girls Clubs“ seltener bis gar nicht.
4. Arbeitsbienen
Männer verdienen Geld – und Frauen halten ihnen den Rücken frei beziehungsweise machen die Arbeit, für die es entweder kein Geld gibt – wie Care-Arbeit – oder arbeiten zu. Dieses Grundprinzip der Arbeitswelt galt jahrtausendelang, seit Beginn der Landwirtschaft und damit dem Konzept von Besitz und Erwerb. Erst seit 1962 dürfen Frauen ein eigenes Konto eröffnen, seit 1977 ohne Erlaubnis des Mannes erwerbsarbeiten.
Noch heute ist zu beobachten, dass Frauen oft in die Berufe der „Zuarbeiterin“ steuern – der zweiten Reihe, der Frau im Rücken. Im Gesundheitswesen, zum Beispiel, sind laut dem statistischen Bundesamt drei Viertel der zuarbeitenden Berufe wie Arzthelferin oder pharmazeutische Assistenzen von Frauen besetzt.
Das ist zum Teil auch dadurch begründet, dass Frauen weiterhin den Hauptteil der unbezahlten Arbeit – der Care-Arbeit – leisten. Doch selbst wenn eine Frau in eine Führungsposition kommt, ist zu beobachten, dass die Tätigkeiten, die ihr zugetragen werden, immer noch operativer sind als bei den Männern.
„Ich hätte gern nen Kaffee“ – in meinem Buch berichte ich von mehreren Situationen die belegen, dass die Verknüpfung zwischen Geschlecht und operativer Tätigkeit nach wie vor stark ist. Dies hat auch mit Gender-Steretypen und Rollenbildern zu tun, vor allem aber mit dem, was wir von klein auf lernen: Frauen versorgen, Männer bestimmen.
5. Internalisierte Unterdrückung
Immer wieder kommt der Begriff der „Stutenbissigkeit“ auf – Frauen, die es an die Spitze eines Unternehmens schaffen, dann jedoch nur männliche Führungskräfte fördern. Auch, wenn dies nicht die Regel ist, kommt das Phänomen der „internalisierten Unterdrückung“ vor: Frauen verinnerlichen die Regeln einer männlich geprägten Arbeitswelt so sehr, dass sie sie gegen andere Frauen anwenden.
Es ist noch keine 20 Jahre her, dass mit der Niederländerin Karin Dorrepaal im Jahr 2004 die erste Frau in einen DAX-Vorstand eingezogen ist. Gerade die erste Generation der Frauen, die Anspruch auf Positionen anmeldete, die bisher ausschließlich Männern vorbehalten waren, wusste: da ist maximal ein Platz am Tisch für jemanden, die anders ist.
Und es gibt einen weiteren Grund, der das Bild von erfolgreichen Frauen, die einander an die Gurgel gehen, so verfänglich macht: Weil wir das schon von Kindheit lernen, dass es für Frauen eigentlich nur drei Arten der Beziehung gibt: Beste Freundinnen, erbitterte Feindinnen, alleine unter Jungs – sei es Gabi bei TKKG oder Schlumpfine bei den Schlümpfen.
Eine Studie der Uni Rostock hat im Jahr 2007 knapp dreitausend Kinderprogramme der gängigen Sender untersucht. Knapp drei Viertel der Protagonist:innen waren männlich, sogar bei Fantasiepflanzen waren es 88 Prozent. Auch in Erwachsenenfilmen gilt: Selbst wenn eine Frau die Hauptfigur ist, hat sie maximal die Hälfte des Redeanteils. Mädchen sehen also: es gibt wenige Plätze, auf die wir uns aufteilen müssen.
Ein neues Gesetz hebelt genau das aus: Es kann nicht nur mehr als eine geben, es muss. Zum Jahreswechsel 2022 auf 2023 ist die EU Führungspositionen-Richtlinie in Kraft getreten, die auch der Bundestag im Februar angenommen hat. Bis 2026 müssen 40 Prozent der Mitglieder in Aufsichtsräten und 33 Prozent in Aufsichtsräten und Vorständen börsennotierter Unternehmen in der EU weiblich sein. Frauen müssen sich dann nicht mehr um „den einen“ Stuhl am Tisch kloppen. Durch die neue Gesetzgebung sind sie mittelfristig auch kulturell nicht mehr in der Unterzahl: Die Arbeitswelt kann sich verändern.