Wir Deutschen haben ein seltsames Verhältnis zu unseren Schulden. Wir laden sie im Geiste in Eisenbahnwaggons, die um die Erde reichen, oder stapeln 100-Euro-Scheine bis zum Mond. Auch zerbrechen wir uns ständig den Kopf, wie lange es dauert, die Schulden zurückzuzahlen (bis ins Jahr 2789). Das Eigentümliche ist nicht nur, dass wir so tun, als ob wir alles zurückzahlen würden – wir fragen uns nicht mal mehr, ob das sinnvoll wäre. Seit Jahren leben wir in einem „Schuldensumpf“, aus dem wir uns nur durch eine „Schuldenbremse“ retten können. Und wer pleite ist, ist ein „Schuldensünder“. Sprich: muss Buße tun.
Natürlich ist die teils astronomische Verschuldung in vielen Ländern ein großes Problem; gerade deshalb aber sollten wir aufhören, Scheine bis zum Mond zu stapeln. Defizite sind ja nicht per se schlecht. Wenn man etwa auf Pump eine Brücke baut, auf der dann Autos und Lastwagen fahren können, kann dies die Produktivität steigern. Als Bruchrechnung ausgedrückt: Oft fragen wir uns gar nicht mehr, wie wir den Nenner (das BIP) vergrößern können, weil wir komplett auf den Zähler fixiert sind.
Wohl kaum einer hat dieses Megathema unser Zeit akribischer analysiert als der Ökonom Kenneth Rogoff. Als ich ihn Anfang Oktober in Harvard zum Interview traf, wirkte er noch sehr angefasst – im April war ein Streit um seine Arbeit und die berühmte Regel entbrannt, dass oberhalb von 90 Prozent Schuldenstand das Wachstum abnimmt. Rogoff steht zu seiner Regel, vor allem aber bin ich seit diesem Interview für eine Große Koalition. Warum? Rogoff erklärte mir noch mal, was wir Deutschen verdrängt haben: dass die Milliarden, mit denen wir seit Jahren Südeuropa retten, zum größten Teil verloren sind. Natürlich hat er diese Einsicht nicht exklusiv. Das Besondere ist sein empirischer Schatz aus Jahrhunderten, auf den er die Erkenntnis stützt, das macht seine Prognose so beklemmend: Wir werden, das lehrt die Geschichte, eine große Umschuldung in Europa erleben. So war es immer, und so wird es wieder sein. Aus Schulden wie in Südeuropa kann in der Regel kein Land herauswachsen.
Deutschland hätte die Chance dazu – wenn es gut läuft, wird unser Schuldenstand von ganz allein sinken. Er wird explodieren, wenn das eintrifft, was Rogoff prophezeit. Das Koalitionsgeschacher um Mindestlohn und Betreuungsgeld wirkt da ein wenig, als würden wir gerade um die Musik streiten, die das Orchester auf der Titanic spielen soll. Wir brauchen eine starke Regierung, die uns durch diesen Sturm führt.
Aber nun tauchen Sie (trotzdem) ein in die Welt der Wirtschaft!
Horst von Buttlar
Chefredakteur
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