Ich war vor kurzem mal wieder für ein paar Tage in Berlin-Mitte. Meine Tochter und ihre beste Freundin hatten sich diesen Städtetrip gewünscht, weil sie das Angebot an Vintage-Klamotten dort schätzen. Das bedeutete auch, dass ich gar nicht so viel zu tun hatte, weil die beiden zum Shoppen eh lieber allein gelassen werden wollten. Ich hatte also Zeit, von Café zu Café zu schlendern und diesen Ort auf mich wirken zu lassen.
Und so sehr ich diese Gegend mag: Diesmal hat sich in meine Begeisterung zum ersten Mal Besorgnis gemischt – und die hat mit blauen Flecken, Bakterien und Entscheidungsgrundlagen von Politikern zu tun.
Herrenausstatter in Berlin
Nach wie vor ist Berlin-Mitte herrlich bunt, experimentell und international. Die Stimmung ist toll und alles, was Sie dort an Angeboten bezüglich Kleidung, Möbel, Schuhe oder Essen finden, ist irgendwie exotisch. Läden dieser Art finden Sie in anderen deutschen Städten nicht oder zumindest in wesentlich geringerer Zahl. Einen „normalen“ Herrenausstatter habe ich dagegen bei meinen Spaziergängen noch nie entdeckt. Ich weiß, dass es die auch in Berlin gibt – aber hier eben anscheinend nicht.
Muss es ja auch nicht. Ich will damit keine Forderung aufstellen oder eine Entrüstung inszenieren. Dieser Umstand ist gerade das, was mich an diesem Viertel reizt.
Und doch war dieses Mal etwas anders: Berlin-Mitte ist meiner Wahrnehmung nach von der Lebensrealität im Rest von Deutschland inzwischen vollkommen entrückt.
Blaue Flecke in Travemünde
Ich habe lange überlegt, an welcher Beobachtung ich diese neu Wahrnehmung festmachen kann. Es ist ja mehr ein Gefühl als eine wissenschaftlich saubere Sammlung von Fakten. Die wäre auch gar nicht so leicht, denn auch hier gehen die Menschen in die Läden hinein, schauen sich um, manches kaufen sie, manches nicht. Sie gehen in Restaurants, lassen sich einen Platz zuweisen, suchen sich etwas zu essen aus. Gut, Sie sitzen hier gerne auch mal unbequem, gerade wenn es um asiatische Küche geht – Hauptsache, alles ist authentisch, cool und hip. Aber sonst?
Eine Sache ist mir dann doch ins Auge gestochen. Und die hat etwas damit zu tun, dass ich vor der Berlin-Reise ein paar Tage mit meiner Tochter und meinem mittleren Sohn in Travemünde an der See war. Einer alten Tradition folgend – von der wir beide nicht mehr wissen, wo sie herkommt – knufft mich meine Tochter immer in die Seite, wenn sie ein gelbes Auto sieht. Und nun kam mein Sohn auf die Idee, es ihr gleich zu tun, immer wenn ein E-Bike in Sicht kam. Ich kann Ihnen sagen: Ich habe ganz schön gelitten in diesem Urlaub, denn es gibt verdammt viele E-Bikes in Travemünde.
Die blauen Flecke haben mich beim Flanieren durch Berlin-Mitte dann dazu gebracht, auch hier auf die E-Bike-Dichte zu achten. Natürlich ist meine Beobachtung statistisch nicht sehr gesichert, aber der Unterschied war frappant: Während in Travemünde drei Viertel der Fahrräder E-Bikes sind, sind es in Berlin-Mitte maximal fünf Prozent.
Realität in Elze
Nun können Sie mit Recht einwenden, dass der Altersdurchschnitt in Travemünde wohl ein anderer ist als in Berlin-Mitte, aber auch an der See waren viele junge Familien – auf E-Bikes – unterwegs. Ich will diese Beobachtung auch nicht zu hoch aufhängen, sie untermauert einfach das Gefühl, das sich mir bei meinem Flanieren durch Berlin-Mitte aufgedrängt hat. Hier herrscht einfach eine ganz andere Lebensrealität als an allen anderen Orte in Deutschland, in denen ich die letzte Zeit gewesen bin – und das waren ganz schön viele, denn seit die Corona-Beschränkungen gelockert sind, hatte ich doch einiges an Besuchen aufzuholen.
Es ist nicht zu übersehen: Die Lebensrealität in Berlin-Mitte hat schon mit der von Hannover nichts mehr gemein, das immerhin auch eine Großstadt ist (und im Übrigen auch eine geringere E-Bike-Quote aufweist als Travemünde). So richtig weit weg ist diese Lebensrealität aber von der in Elze, einer Kleinstadt südlich von Hannover, wo ich aufgewachsen bin und wo meine Eltern heute noch leben.
Elze ist fast vollständig deindustrialisiert. Kaum einer der wenigen Betriebe, die früher da waren, haben überlebt. Die Einwohner pendeln alle mehr oder weniger weit zu den paar verbliebenen mittelständischen Firmen in der Umgebung.
Wie von Grund auf anders ist das Bild der Beschäftigten, das in Berlin-Mitte vorherrscht: hochausgebildet, hochinternational, sehr viele Freelancer und Solo-Selbstständige. Dieser Unterschied ist weder gut noch schlecht, den gilt es nicht zu verurteilen. Aber er ist da. Und ich finde ihn aus einem ganz bestimmten Grund beunruhigend.
Politik aus der Petri-Schale
Wenn ich mir vorstelle, dass die einflussreichsten Politiker, Funktionäre und Medienschaffenden dieser Republik einen großen Teil ihrer Zeit in Berlin-Mitte leben, prägt dieses Milieu zwangsläufig ihre Wahrnehmung von der gesellschaftlichen Realität in Deutschland. Das ist ihnen nicht vorzuwerfen: Alle Lebewesen werden von ihrer Umgebung beeinflusst. Schon Bakterien entwickeln sich unterschiedlich in Abhängigkeit von der Nährlösung, in die sie im Labor gesetzt werden. Auch wir Menschen können uns davon nicht komplett freimachen: Unsere Vorstellung davon, wie die Welt ist, wird von unserer direkten Umgebung geprägt.
Nun sind aber Politiker bemüht – und ich unterstelle hier nur gute Absicht –, ihre Entscheidungen zum Beispiel in Sachen Arbeitsmarktpolitik an dem auszurichten, was sie für das Beste für die Lebensrealität der Mehrheit der Bevölkerung halten. Bewegen sie sich jedoch vorwiegend in einem Milieu, das der Lebensrealität dieser Mehrheit so komplett entrückt ist, wie Berlin-Mitte es meiner Wahrnehmung nach vom Rest von Deutschland ist, dann kann ich verstehen, warum manche die Politiker und ihre Entscheidungen inzwischen als weltfremd bezeichnen.
Mein liebes Berlin-Mitte: Hättest du nicht mal Lust auf eine E-Bike-Tour durch Travemünde?
Lars Vollmer ist Unternehmer, Vortragsredner und Bestsellerautor. In seinem Buch „Der Führerfluch – Wie wir unseren fatalen Hang zum Autoritären überwinden“ stellt er den Krisen in unserem Land Selbstorganisation und die Idee einer Verantwortungsgesellschaft entgegen.