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Kommentar Der Brexit wird teuer

Die Entscheidung für den britischen EU-Beitritt war wohl begründet, der Austritt nicht. Er macht das Land ärmer. Von Martin Wolf

Martin Wolf ist Kolumnist der "Financial Times". Er ist bei der britischen Finanzzeitung Chefkommentator für ökonomische Themen

David Cameron hat hochgepokert und verloren. Die Panikmache und dreisten Lügen von Boris Johnson, Michael Gove, Nigel Farage, „The Sun“ und „Daily Mail“ haben gewonnen. Großbritannien, Europa, der Westen und die Welt sind beschädigt. Großbritannien wurde herabgewürdigt und könnte bald schon geteilt werden. Europa hat seine zweitgrößte und nach außen gerichtete Kraft verloren. Das Scharnier zwischen der EU und der englischsprachigen Welt ist auseinandergebrochen. Es ist wahrscheinlich das verheerendste Ereignis in der britischen Geschichte seit dem Zweiten Weltkrieg.

Großbritannien ist möglicherweise nicht das letzte Land, das ein solches Erdbeben erleiden muss. Ähnliche Bewegungen erzürnter Bürger existieren auch anderswo – vor allem in den USA und Frankreich. Großbritannien hat den Weg über die Klippe gewiesen. Andere könnten folgen.

Das Vereinigte Königreich und in geringerem Maß die EU stehen am Beginn einer längeren Phase der Unsicherheit. Die Konservativen werden eine neue Führung bekommen. Ob es ihnen gelingt, eine kohärente Regierung zu bilden, ist eine andere Sache. Sie werden dann etwas tun müssen, was die Brexit-Anhänger während ihrer Kampagne nicht getan haben – sie müssen einen Plan vorlegen, um die britischen Verbindungen zur EU zu lösen. Sie haben die Verbindung unterbrochen; es ist nun ihre Sache. Aber leider sieht es so aus, dass es keinen Plan gibt, auf den sie sich einigen könnten.

Großzügigkeit ist nicht zu erwarten

Das wird vermutlich die Energien dieser Regierung und ihrer Nachfolger für Jahre binden. Auch gilt es, einige große Entscheidungen zu treffen. Eines scheint klar: Es ist politisch unvermeidlich, dass Großbritannien Kontrollen für die Zuwanderung aus der EU einführt. Die auf den ersten Blick beste Option scheint damit ausgeschlossen: die Mitgliedschaft im Europäischen Wirtschaftsraum, die den Zugang zum Binnenmarkt gewährleisten würde. Im besten Fall könnte sich das Vereinigte Königreich an einer Freihandelszone für Güter beteiligen. Aber der Dienstleistungssektor, von dem es abhängig ist, wäre vom Binnenmarkt ausgeschlossen.

Inzwischen muss der Rest der EU, der sich ohnehin vielen Herausforderungen stellen muss, eine Verhandlungsposition erarbeiten. Es werden mit Sicherheit strikte Vorgaben sein. Warum sollten die anderen EU-Staaten ein Land großzügig behandeln, dass ihnen einen Schlag ins Gesicht verpasst hat? Warum sollten sie andere europäische Politiker in dem Glauben bestärken, der Ausstieg sei eine billige Option? Falls Boris Johnson Premierminister werden sollte, wie darf man sich dann den Umgang der deutschen Kanzlerin mit ihm vorstellen, wo er doch glaubt, dass die EU die gleichen Ziele verfolge wie Hitlers Reich. Ja es stimmt, Deutschland hat einen Handelsüberschuss mit dem Vereinigten Königreich. Aber das ist nicht entscheidend, denn deutsche Hersteller werden weiter hochwertige Produkte in Großbritannien verkaufen, die dort nicht hergestellt werden – trotz allem.

Das Pfund ist bereits abgestürzt. Wenn der Kurs niedrig bleibt, was wahrscheinlich ist, wird das möglicherweise die Folgen für die Produktion abfedern, zumindest mittelfristig. Aber die unvermeidliche Unsicherheit wird Jahre anhalten, nicht nur ein paar Monate. Und sie wird die Anlagemärkte wahrscheinlich immer wieder in Turbulenzen bringen. Wenn der Sturz des Pfund einen kurzfristigen Sprung bei der Inflation erzeugt, so sei es: Die Bank of England kann das ignorieren. Aber der Vertrauensverlust in Großbritannien könnte so stark sein, vor allem angesichts der Größe des britischen Leistungsbilanzdefizits, dass die Behörden nicht damit zurechtkommen. Falls ja, könnte beträchtliche ausländische Unterstützung benötigt werden. Aber wird sie ankommen?

Die britische Wirtschaft muss neu konfiguriert werden

Die fiskalischen Warnungen von Schatzkanzler George Osborne waren nicht ganz dumm. Die Provinzen werden lernen müssen, möglicherweise schon bald, was der wahrscheinliche Verlust an wirtschaftlicher Dynamik für die Steuereinnahmen bedeutet, auf die sie angewiesen sind. Ein Notfall-Budget ist nicht erforderlich. Aber es ist gut möglich, dass sich die strukturelle und nicht nur die zyklische Finanzlage nun verschlechtert. Falls ja, wird das sicherlich irgendwann eine fiskalische Straffung erfordern.

Die britische Wirtschaft muss neu konfiguriert werden. Unternehmen, die sich im Vereinigten Königreich niedergelassen haben, um den EU-Markt zu bedienen, müssen ihre Position überdenken. Die Rolle der City of London im Handel mit in Euro ausgewiesenen Vermögenswerten wird unterminiert. Auch Industriebetriebe müssen über eine Neujustierung ihrer Produktionskapazitäten nachdenken. Viele werden sie verlagern. Unternehmen, die davon abhängig sind, EU-Bürger zu beschäftigen, müssen ihre Geschäfte neu ordnen. Viele werden in den EU-Binnenmarkt abwandern. Solche Entscheidungen werden nicht sofort getroffen. Aber Investitionen werden zurückgefahren. Im Wirtschaftsleben ist in einem gewissen Ausmaß die Zukunft immer schon heute.

Auf kurze Sicht wird es schwierig sein, solche Entscheidungen auf einer vernünftigen Grundlage zu treffen. Die Unternehmen wissen einfach nicht, wie sich letztendlich die Politiker den schwierigen Verhandlungen nähern. Diese Unsicherheit war schon immer das offensichtlichste Ergebnis eines Austrittsvotums. Nur die Zeit vermag diesen Nebel aufzulösen. Aber die Meinung, dass das Vereinigte Königreich für einen längeren Übergangszeitraum ärmer dran sein wird als bei einem Verbleib, ist schon mehr als wahrscheinlich. Das Vereinigte Königreich hat sich innerhalb der EU gut entwickelt. Es ist unwahrscheinlich, dass es außerhalb genauso sein wird.

Doch die Wirtschaft ist nur ein Teil von dem, was zählt. Die britische Entscheidung für den Beitritt zur EU wurde aus guten Gründen getroffen. Für die Entscheidung zum Austritt trifft das nicht zu. Es ist die Entscheidung, der großen Anstrengung zur Überwindung der europäischen Trennlinien den Rücken zuzuwenden. Das ist für mich eine der traurigsten Stunden.

Copyright: The Financial Times Limited 2016

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