Mehr Jobs, steigende Löhne und auf das Ersparte gibt es sogar wieder Zinsen. Von „guten Nachrichten für Europa“ sprach die Präsidentin der Europäischen Zentralbank (EZB), Christine Lagarde, während der Begründung der jüngsten Leitzinserhöhung um 25 Basispunkte. Sie berichtete von einem „robusten Arbeitsmarkt“ mit einer rekordtiefen Arbeitslosenquote von 6,5 Prozent in der Eurozone im April und von einer Million neu entstandener Jobs im ersten Quartal. Und dafür, dass die Leitzinsen – gemessen am für die Banken relevanten Einlagensatz – inzwischen bei 3,75 Prozent und damit so hoch wie seit 22 Jahren nicht mehr liegen, hat Lagarde selbst gesorgt.
Dennoch zeigte sich die EZB-Präsidentin besorgt, aber nicht weil ihre rekordschnelle Leitzinserhöhung von inzwischen 425 Basispunkten in elf Monaten von einigen Banken und Sparkassen noch immer nicht an Sparerinnen und Sparer weitergegeben wird. Lagarde sorgt sich darum, dass die Preise weiterhin zu kräftig steigen. „Die Inflation ist gefallen, aber sie wird noch zu lange zu hoch sein“, sagte sie und setzte damit ein klares Zeichen für weitere Zinsanhebungen. Für Juli hat sie weitere 25 Basispunkte quasi versprochen und könnte danach entgegen bisherigen Markterwartungen weiter an der Zinsschraube drehen.
„Mitten im Kampf“
„Wir sind mitten im Kampf gegen die Inflation“, betonte die Französin. „Wir haben noch einige Arbeit zu leisten und werden die Zinsen solange wie nötig auf einem restriktiven Niveau halten.“ Dies könnte länger sein, als viele Ökonomen zuletzt gedacht haben, worauf auch die neuen Prognosen der EZB selbst hindeuten. Selbst in drei Jahren wird die Inflationsrate in der Eurozone demzufolge noch bei 2,2 Prozent und damit oberhalb des Ziels der Notenbank von 2,0 Prozent liegen. Für dieses Jahr erwarten die EZB-Volkswirte einen Anstieg der Verbraucherpreise um 5,4 und für nächstes Jahr um 3,0 Prozent. Das ist jeweils etwas höher als die Notenbank selbst noch im März geschätzt hatte. Im Mai stiegen die Preise in der Eurozone im Jahresvergleich um 6,1 Prozent nach einem Wert von 7,0 Prozent im April. Hauptgrund für den langsamen Rückgang des Preisanstieges ist Lagarde zufolge nicht mehr die Energie, sondern der Arbeitsmarkt. Lagarde deutete an, dass die deutlich gestiegenen Lohn-Stück-Kosten und nicht die Löhne, verantwortlich für den Preisanstieg seien. Das ist ein Zeichen für ein schwaches Produktivitätswachstum.
„Wir sind noch nicht am Ziel“, lautete angesichts der Inflationsprognose Lagardes Botschaft. „Wir müssen noch Boden gut machen.“ Allerdings hielt sie sich – über das Versprechen von weiteren 25 Basispunkten – mit Signalen zur Geldpolitik über den Sommer hinaus zurück. Zu einer Straffung der Geldpolitik wird beitragen, dass die EZB ab Juli die Rückzahlungen aus dem Anleihekaufprogramm APP nicht mehr reinvestieren wird (bislang galt dies begrenzt bis Ende Juni). Da Lagarde mehrfach von der Datenabhängigkeit der Geldpolitik sprach, ist zu vermuten, dass sie und die ganze Notenbank im August erst einmal in den Urlaub gehen und sich danach ein Bild der Lage machen wird.
Fortsetzung im Herbst?
„Hoffnungen auf sinkende Leitzinsen wurden erst einmal klar enttäuscht“, sagte Michael Holstein, Chefvolkswirt der DZ Bank. „Die EZB beweist mit der Entscheidung, dass sie im Kampf gegen die Inflation einen langen Atem hat und sich von den schwächeren Konjunkturdaten nicht von ihrem Kurs abbringen lässt. Das mag ihr kurzfristig Kritik einbringen, ist aber mit Blick auf die Preisstabilität in den nächsten Jahren die richtige Entscheidung.“
So wie Holstein begrüßten zahlreiche Volkswirte das falkenhafte Auftreten Lagardes. Als „Falken“ gelten Vertreter einer harten Geldpolitik, die einzig darauf ausgerichtet ist, die Inflationserwartungen zu brechen. Der Fokus der EZB liege derzeit auf der Inflationsentwicklung, erläuterte Ulrike Kastens, Europa-Volkswirtin der Fondsgesellschaft DWS. „Daher teilen wir die Markterwartungen eines Endes des Straffungskurses bei 3,75 Prozent im Juli nicht. Im Gegenteil: Da weitere hohe Lohnsteigerungen bereits verhandelt wurden und viele Unternehmen immer noch über Preissetzungsspielraum verfügen, dürfte die Kerninflationsrate bis zum Herbst dieses Jahres bei über fünf Prozent liegen.“ Kastens rechnet deshalb damit, dass die EZB den Leitzinsen auf 4,0 Prozent „anheben muss, um mittelfristig ihr Mandat erfüllen zu können“.
Sollte die Prognose zutreffen, wäre nicht nur die Spekulation auf Zinssenkungen zum Jahresende verfrüht gewesen. Auch die Zinspause über den Sommer würde ausfallen. „Der Zinsgipfel in Europa dürfte nicht vor Herbst erreicht sein“, lautet die Prognose von Johannes Mayr, Chefvolkswirt beim Vermögensverwalter Eyb & Wallwitz.
Fed signalisiert zwei weitere Anhebungen
Damit könnte der Zinserhöhungszyklus der EZB länger andauern, ebenso wie in den USA. Dort hatte die Notenbank Federal Reserve am Abend zuvor zwar auf eine weitere Zinserhöhung verzichtet und den Leitzins in der Spanne von 5,0 bis 5,25 Prozent belassen, aber zwei weitere Zinsanhebungen für die zweite Jahreshälfte in Aussicht gestellt.
Damit werden sich die Erwartungen vom Frühjahr nicht erfüllen, als Marktakteure auf eine Zinssenkung schon in diesem Jahr gewettet haben. „Da der Arbeitsmarkt nach wie vor robust ist, der Bankensektor sich stabilisiert hat und das Wachstum besser als erwartet verläuft, hat die Fed sowohl einen Grund als auch den nötigen Spielraum für weitere Zinserhöhungen“, sagte Eric Winograd, Industrieländer-Experte bei der Fondsgesellschaft AllianceBernstein.