Kolumne Kursrutsch an der Börse: Irgendetwas ist immer

Christian Kirchner, Capital-Chefkorrespondent in Frankfurt
Christian Kirchner, Capital-Chefkorrespondent in Frankfurt
© Gene Glover
Die Blätter fallen, die Kurse auch – daher ein Blick in den Werkzeugkasten eines Crashgurus. Eine Kolumne von Christian Kirchner.

Sollte bei dem ein oder anderen der Eindruck entstanden sein, hinter Anlegern lägen einige sorgenfreie Jahre mit tollem Wachstum und stets steigenden Kursen, hier eine kleine Gedächtnisauffrischung: Irgendetwas war immer, über das man sich den Kopf zerbrechen konnte. Und als Grund herhalten musste, warum es bestimmt bald rappeln wird an den Märkten. Klingt banal? Ist es aber nicht. Sich zu vergegenwärtigen, das immer irgend etwas ist, hilft dabei, gar nicht erst auf die Idee zu kommen, mit dem Verkaufen und Rückkaufen zu versuchen, die Renditen etwa mit Aktien zu optimieren. Irgendwas ist immer - schön dokumentiert wird das in der regelmäßigen Umfrage der Bank of America unter hunderten Fondsmanagern. Die befragt die Bank nach dem größten Risiko, das sie aktuell sehen. Ein kleiner, unvollständiger Ausriss der Themen, die seit 2013 alle einmal zu einem bestimmten Zeitpunkt die „Führung“ unter den am häufigsten genannten Sorgen hatten: die EU-Schuldenkrise, die Fiskalklippe der Vereinigten Staaten, eine harte Landung von Chinas Wirtschaft, Deflation in der Eurozone, eine US-Rezession, Brexit, ein Sieg Trumps bei der Präsidentschaftwahl, der Nordkorea-Konflikt, geopolitische Eskalationen, ein Handelskrieg. Und das in gerade mal fünf Jahren! Man sollte sich daran erinnern, wenn man der Frage nachgeht, ob wir aktuell eine gesunde Korrektur sehen - oder die Verluste das Ende eines seit fast einem Jahrzehnt laufenden Aufschwungs vorwegnehmen. Niemand kann das mit Bestimmtheit sagen. Immer gab es Gründe, sich Sorgen zu machen, und stets schrieb man den jeweiligen Problemen das Potenzial zu, alles ins Wanken zu bringen. In dieser Hinsicht machen die aktuellen Themen keinen Unterschied: die US-Zinswende, Sorgen um Italiens Schulden, der Brexit.

Der Wiedereinstieg ist eine Herausforderung

Es ist zwar gut möglich, dass der Bullenmarkt an den Börsen nicht erst seit einigen Wochen, sondern bereits im Januar zu Ende gegangen ist, aber es kaum jemand bemerkt hat. Die Stärke des US-Aktienmarkts hat kaschiert, dass die übrigen globalen Aktienmärkte Stand Donnerstag im Schnitt bereits 20 Prozent von ihrem im Januar erreichten Höchststand abgegeben haben. Eine Kette von Gewinnwarnungen und die notorische Schwäche gerade zyklischer Aktien etwa im Dax in den vergangenen Wochen sind kein gutes Zeichen. Keine Frage: Wir sind bestenfalls in einer spätzyklischen Phase eines Booms, und gerade mit dem Dax ist man für alles, was danach kommt, nicht unbedingt gut aufgestellt. Allein, es ist kaum möglich, mit Bestimmtheit Rezessionen vorherzusagen – und auch nicht, mit dem Ein- und Ausstieg die Rendite zu optimieren. Der Ausstieg fällt vielen leicht. Aber der Wiedereinstieg ist dann eine Herausforderung. Zu höheren Kursen zurückkaufen, das bringen die wenigsten übers Herz. Schließlich hieße das, sich damit den Fehler des Verkaufs einzugestehen. Und sacken die Kurse tatsächlich wie erhofft durch, macht sich rasch die Angst breit, dass es – irgendwas ist, siehe oben, schließlich immer - gewiss noch weiter runter geht. Rüsten kann man sich als Anleger angesichts der jüngsten Turbulenzen auch schon einmal für die nun wieder häufigeren Auftritte der „Crashgurus“. Deren Erfolgsrezept ist oft von einer solchen Schlichtheit, dass man es sich angesichts der sich ausbreitenden Nervosität an den Märkten ruhig auch noch einmal ins Gedächtnis rufen sollte: wenn Sie mit einem möglichst desaströsen Ausblick auf die Zukunft des Euro, die Aktienmärkte, Schulden oder die Konjunktur auf sich aufmerksam machen, hören Ihnen schon einmal per se eine Menge Menschen zu. Das gilt besonders für Deutschland, wo man gerne eher sicherheitsorientiert Geld anlegt und viele auf der Suche nach Bestätigung sind, dass sie Recht haben mit ihrem Misstrauen gegenüber Kapitalmärkten. In einem reichen Land haben viele Menschen zudem auch einfach viel zu verlieren.

Jeder Kursrutsch bringt neue Crashgurus hervor

Nun liegen Sie als Crashguru zwar mit einer geringen Wahrscheinlichkeit richtig und mit einer hohen Wahrscheinlichkeit falsch. So oft implodieren nun mal keine Währungen oder brechen Konjunktur und Aktienmärkte zusammen. Aber für den Fall, dass Sie tatsächlich richtig liegen – und sei es aus blankem Zufall – ist Ihnen natürlich der Ruhm sicher. Jeder Börsencrash der letzten Jahrzehnte brachte neue Crashgurus hervor, die Dinge „kommen gesehen“ haben. Das schöne ist aber: Bleibt Ihr vorhergesagter Crash aus, werden die Menschen das rasch vergessen. Niemand trägt schließlich einen Schaden davon, außer vielleicht Opportunitätskosten in Form entgangener Gewinne und weil die Edelmetalle im Banksafe lediglich dunkel anlaufen, statt im Wert zu steigen. Anders ist das mit Optimisten: Wenn ich Ihnen etwa hier an dieser Stelle den konstruktiven Rat gebe, doch auf Sicht von zehn Jahren einfach einen globalen Aktienfonds zu kaufen und zu halten, Sie mir folgen und die Kurse brechen dann in den kommenden Monaten um ein Drittel ein – dann haben Sie einen sehr realen Verlust im Depot. Und werden sich vermutlich fragen, warum zum Teufel ich denn zur Unzeit zum Kauf geraten habe. Solche kritischen Nachfragen müssen Crashgurus nicht befürchten. Und nagelt sie doch mal jemand drauf fest – wie war das eigentlich mit dem Crash, der kommen sollte? – dann wird meist kurzerhand der Prognosezeitraum erweitert: man habe ja nur gesagt, dass – aber nicht wann – es krache. Hilfsweise kommt dann noch das Argument, es sei Politik und Notenbanken mit unerhörten Manipulationen gelungen, den unausweichlichen Crash noch einmal aufzuschieben, der dann natürlich noch weitaus fataler ausfallen werde. Einen Crash vorhersagen, das ist so etwas wie ein kostenloses Los in der Lotterie, in der mediale Börsenprominenz ermittelt wird, die sich später monetarisieren lässt. Und erklärt auch, wieso viele „Börsenpromis“ in Talkshows, Interviews und Büchern so gerne mit pessimistischen Prognosen auffallen. Es gibt keinen Grund für Sorglosigkeit. Aber auch eine Menge Gründe, sich nicht verrückt machen zu lassen vom täglichen Lärm, wenn man auf Sicht vieler Jahre anlegt.

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