Eigentlich hatte sich Christine Lagarde nach ihrer gut 45-minütigen Pressekonferenz bereits verabschiedet. Dann greift sie doch noch einmal zum Wasserglas, trinkt einen Schluck und dreht sich zum Mikrofon. Hoffentlich sehe man sich zur nächsten Ratssitzung mit Pressekonferenz am 11. April wieder in größerer Runde, sagt die Präsidentin der Europäischen Zentralbank (EZB). Das gelte für die Medien wie auch den Zentralbankrat selbst. Auf beiden Seiten waren an diesem Donnerstag Plätze frei geblieben, weil es zahlreiche Ratsmitglieder wie auch Journalisten wegen des Streiks im deutschen Flug- und Bahnverkehr nicht nach Frankfurt gekommen sind.
Lokführer wie auch das Lufthansa-Bodenpersonal haben die Arbeit niedergelegt, um für höhere Löhne zu streiken. Ein Thema, das die EZB derzeit ebenfalls umtreibt. „Obwohl die meisten Messgrößen für die zugrundeliegende Inflation weiter zurückgegangen sind, bleibt der inländische Preisdruck hoch, was zum Teil auf den starken Anstieg der Löhne zurückzuführen ist“, erklärte Lagarde. „Gleichzeitig gibt es Anzeichen dafür, dass sich das Lohnwachstum zu verlangsamen beginnt.“ Die Zahl offener Stellen sinke und die Unternehmen berichteten von weniger Problemen als noch vor ein, zwei Jahren bei der Besetzung von Jobs.
Inflationsziel wird erreicht
Diese Erwartung spiegelt sich auch in der neuen Prognose der Notenbank für die Inflationsentwicklung wider, die mit Spannung erwartet worden war und die ein wesentlicher Faktor für die Geldpolitik ist. Für dieses Jahr rechnen die EZB-Volkswirte mit einer Inflationsrate von 2,3 Prozent, für die beiden folgenden Jahre sind 2,0 und 1,9 Prozent prognostiziert. Damit wäre die EZB wieder in ihrem selbst gesetzten Zielkorridor einer Inflationsrate von 2,0 Prozent, bei dem sie ihr Mandat der Preisstabilität auf mittlere Sicht erfüllt sieht. Auch die Kerninflationsrate, die schwankungsanfällige Energie- und Nahrungsmittelpreise ausklammert, soll sich der EZB zufolge der Marke von zwei Prozent annähern.
Ob sie den GDL- und Verdi-Streik im Hinterkopf hatte, ist unklar. Allerdings betonte Lagarde, dass die Inflation höher ausfallen könne, „wenn die Löhne stärker steigen als erwartet“. Ein weiteres Inflationsrisiko gehe von den Konflikten im Nahen Osten aus, die das Potenzial hätten, die Energie- und Transportkosten in die Höhe zu treiben. Ein weiteres „Aufwärtsrisiko“ für die Inflation sind der EZB-Präsidentin zufolge die Unternehmen. Bislang seien steigende Löhne zu Lasten der Unternehmensgewinne gegangen. Wenn es jedoch den Firmen gelinge ihre Gewinnmargen hochzuhalten, könne die Inflation weniger stark sinken, warnte Lagarde.
Lagarde: „Nicht ausreichend zuversichtlich“
Kein Wunder also, dass sich die EZB-Präsidentin mit Aussagen zu Zinssenkungen zurückhielt. „Wir haben einen disinflationären Prozess und sind zuversichtlich, aber nicht ausreichend zuversichtlich“, sagte sie. Deshalb sei bei dieser Ratssitzung nicht einmal über sinkende Leitzinsen diskutiert worden. Der EZB-Leitzins (Hauptrefinanzierungssatz) verbleibt also bei 4,5 Prozent, der Einlagensatz bei 4,0 Prozent. Zu diesem Satz parken Banken über Nacht Liquidität bei der Notenbank, was ihnen zuletzt deutliche Gewinne und der EZB einen Verlust eingebrockt hat. Schon seit geraumer Zeit wird deshalb diskutiert, ob die EZB dies für die so genannte Mindestreserve einschränken könnte. Dies ist Geld, dass Geschäftsbanken bei der Notenbank als Sicherheit halten müssen. Lagarde erklärte, bei der nächsten Ratssitzung – ohne Zinsentscheid und Pressekonferenz – könnten Entscheidungen zum Thema Mindestreserve fallen.
Angesichts der Äußerungen Lagardes zur Lohnentwicklung rechnen Volkswirte nun mit sinkenden Leitzinsen nicht vor Juni, einige sprechen sogar von „frühstens im Juni“ – es könnte also auch länger dauern. „Die Gefahr, die Zinsschraube zu früh zu lockern und dann wieder umkehren zu müssen, ist noch gegeben“, sagt Michael Holstein, Chefvolkswirt der DZ Bank. „Vor Juni ist deshalb nicht mit der ersten Zinssenkung zu rechnen. Bis dahin nimmt der Druck auf die EZB wegen der schwachen Konjunktur allerdings weiter zu. Viel länger werden sich die Notenbanker der mauen Konjunktur nicht mehr entziehen können.“ Für dieses rechnet der EZB-Stab selbst nur noch mit einem Wachstum von 0,6 Prozent in der gesamten Eurozone.
Holsteins Kollege Jörg Krämer von der Commerzbank erwartet zwar auch eine Zinssenkung im Juni. Doch sehr weit nach unten werde es wohl nicht gehen zunächst, „weil das Inflationsproblem noch lange nicht gelöst ist.“
Zwischen Pest und Cholera
Die EZB befinde sich auf „einem vorsichtigen Kurs zwischen Pest und Cholera“, sagt Robert Greil, Chefstratege bei Merck Finck. „Ein zu hohes Zinsniveau droht, die Konjunktur in der Eurozone weiter abzuwürgen. Andererseits sehen wir an Christine Lagardes Ausführungen auf der Pressekonferenz, dass die Hauptsorge der EZB weiterhin dem Lohntrend im Euroraum gilt.“
Für Anlegerinnen und Anleger bedeutet die Aussicht auf nur langsam sinkende Leitzinsen die Aussicht, noch länger als gedacht von höheren Anleiherenditen und Sparzinsen zu profitieren. Angesichts des Rückgangs der Inflationsrate können sie mit erspartem und investiertem Geld also wieder eine reale Verzinsung erzielen. Ob dies genügt, weitere Streiks für höhere Löhne zu verhindern, steht aber auf einem anderem Blatt, denn viele Arbeitnehmer wollen nach wie vor die Kaufkraftverluste aus der Phase der hohen Inflation vor zwei Jahren wieder aufholen.