Eigentlich wollte die Europäische Zentralbank (EZB) bei ihrer Sitzung am morgigen Donnerstag den Weg zu einer normalisierten Geldpolitik ohne stützende Anleihekäufe und mit Zinsanhebungen skizzieren. Damit wollten die Währungshüter auch die steigende Inflation eindämmen. Doch der Ukraine-Krieg und die eingetrübten Aussichten auch für die hiesige Wirtschaft machen ihnen einen Strich durch die Rechnung. „Es ist nicht übertrieben, zu behaupten, dass die EZB seit ihrer Gründung ihren heikelsten Moment vor sich hat“, sagt Thomas Gitzel, Volkswirt der VP Bank. Die EZB-Direktoren müssten sich bei ihrer Sitzung entscheiden, welches Risiko sie stärker gewichten: das der Inflation oder das einer einbrechenden Konjunktur.
Die Abhängigkeit Europas von russischem Gas und Öl bedeutet, dass die Region stärker als andere unter den wirtschaftlichen Auswirkungen des Kriegs leiden wird. Zudem dürfte sich der Konsum weniger stark erholen als noch vor dem Krieg aufgrund des erhofften Pandemieendes angenommen. „Das Klima der Unsicherheit dämpft die Investitionstätigkeit und regt zur Vorsichtsersparnis an“, sagt Franck Dixmier, globaler Anleihechef bei Allianz Global Investors. Wie sich der Konflikt und die verhängten Sanktionen entwickeln und wie lange sie andauern würden, sei nicht vorherzusagen – daher sei die Wirtschaftsentwicklung kaum noch zu prognostizieren.
Der Chefvolkswirt der EZB, Philip Lane, ging zuletzt von einem BIP-Wachstum in der Eurozone von 0,3 bis 0,4 Prozent aus, morgen will die EZB neue Zahlen vorlegen. Gleichzeitig liegt die Inflation in der EU bei knapp sechs Prozent, Tendenz steigend. Dabei geht es nicht nur um Gas und Öl. Russland liefert auch Nickel und Kupfer, Metalle, die zum Teil auch zum Bau von Solaranlagen und Windrädern gebraucht werden. Ein Ernteausfall auf den Weizen- und Maisfeldern der Ukraine ist zudem eine Bedrohung der Nahrungsmittelsicherheit. Der Weizenpreis hat bereits neue Rekordhochs erklommen.
Angst vor Stagflation
Geringes Wachstum und hohe Inflation sind ungemütlich, wenn sie zusammen auftreten, der Ökonom nennt das Szenario Stagflation. „Die EZB wird einerseits betonen müssen, der Wirtschaft im Falle schwachen Wachstums beizustehen, andererseits ein waches Auge auf das Preisniveau und vor allem die Inflationserwartungen haben“, sagt Martin Lück, Leiter der Kapitalmarktstrategie im deutschsprachigen Raum und Osteuropa bei der Vermögensverwaltung Blackrock.
Für die EZB bedeutet das, einen Spagat zwischen dem Ende der Anleihenkäufe und einer Zinserhöhung zu schlagen. Noch vor dem Krieg rechneten Kapitalmarktexperten damit, dass die EZB nach dem Auslaufen des Anleihenkaufprogramms PEPP auch das Aus für das kleinere Programm APP verkünden würde. Das gilt als Bedingung für die Zinswende, die danach gestartet werden sollte.
EZB-Chefin Christine Lagarde hätte nun zum Beispiel die Möglichkeit, die Reihenfolge zu lockern. Dann könnte die EZB die Zinsen heben, um die Inflation abzufedern und gleichzeitig mit Anleihenkäufen die fiskalpolitischen Vorhaben der Regierungen unterstützen. Das würde ihr auch dabei helfen, ihr Versprechen vom 25. Februar zu halten: Damals, einen Tag nach dem russischen Einmarsch in der Ukraine, sagte die EZB zu, alle erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um ihrer Verantwortung für die Gewährleistung der Preis- und Finanzstabilität im Euro-Währungsgebiet gerecht zu werden.
Wahrscheinlicher ist jedoch, dass die EZB auf die Bremse tritt und sich einen möglichst großen Handlungsspielraum sichert. Der französische Notenbankchef François Villeroy de Galhau setzt sich deshalb für mehr „Optionalität“ ein. Der griechische Notenbankchef Yannis Stournaras will sogar erst mal ganz auf dem alten Kurs zu bleiben – und mindestens bis zum Jahresende weiter Anleihen zu kaufen.
Chefvolkswirt Lane schlug in der vergangenen Woche vor, dass die EZB einen Anstieg der Inflation über ihr Zwei-Prozent-Ziel hinaus länger akzeptieren müsse, um das wegfallende Angebot an Rohstoffen kompensieren zu können. Die EZB könnte sogar „neue politische Instrumente“ in Betracht ziehen, um die europäischen Finanzmärkte zu stützen, fügte er hinzu.
Ökonomen fordern die Zinswende
Einige Mitglieder des EZB-Rats sind jedoch nach wie vor davon überzeugt, dass die Zentralbank auf Kurs bleiben sollte. „Wir müssen die Normalisierung unserer Geldpolitik im Auge behalten“, sagte Bundesbankchef Joachim Nagel letzte Woche.
Damit spricht er den heimischen Ökonomen aus der Seele: In einer Umfrage des Ifo-Instituts sprachen sich knapp 70 Prozent von 145 befragten Volkswirten für eine Zinswende aus. „Mit Russlands Krieg gegen die Ukraine ist ein weiterer Treiber der ohnehin schon hohen Inflation hinzugekommen“, sagt Ifo-Forscher Niklas Potrafke. „Die EZB sollte nun endlich die Zinsen erhöhen und damit helfen, die Inflation einzudämmen.“
Die Beratungen der EZB am Donnerstag dürften also spannend werden. Ein bisschen Entlastung können sich die Ratsmitglieder aber vom EU-Gipfeltreffen erhoffen. Dort beraten die Regierungschefs, ob der in der Pandemie aufgelegte EU-Fonds auch für die Finanzierung von erneuerbaren Energien und Aufrüstung verwendet wird. „Falls die EU sich zu diesem weiteren Schritt entschiede, würde dies deutlich Druck von der EZB nehmen“, heißt es von den Analysten der DWS.