Die Vereinigten Staaten haben mit dem Inflation Reduction Act (IRA) den größten industriepolitischen Vorstoß seit Generationen unternommen, und China subventioniert die eigene Greentech-Industrie so üppig, dass die verbliebene europäische Konkurrenz mit dem Rücken zur Wand steht. Die Non-Profit-Organisation Committee for a Responsible Federal Budget schätzt, dass die USA über den IRA 783 Mrd. Dollar in Energiesicherheit und die Bewältigung der Klimakrise investieren. Die chinesische Wirtschaft ist ohnehin von systematischen Subventionen der eigenen Greentech-Industrie geprägt.
Der Startschuss für den Wettlauf um die wirtschaftliche Basis der Zukunft ist also gefallen – lediglich die Europäische Union bewegt sich trotz viel Redens nur langsam. Und ausgerechnet Deutschland, das Land, das in einer solchen Situation mit seiner wirtschaftlichen Stärke und Spitzenforschung zum Zugpferd des gesamten Kontinents werden müsste – tanzt lieber einen Tanz um das goldene Kalb der Schuldenbremse als endlich loszulaufen.
Nobelpreisträger und Top-Ökonom Joseph Stiglitz hält die Schuldenbremse für eine Katastrophe und den deutschen Finanzminister wegen seines Beharrens darauf für den „gefährlichsten Mann Europas“. Ökonom Peter Bofinger ist ebenfalls schon lange erstaunt, dass ausgerechnet das Land, das eine der weltweit niedrigsten Schuldenquoten hat, aber leider auch geringste Wachstumsaussichten, der Schuldenbremse höchste Priorität einräumt. Inmitten globaler Polykrisen sind mehr und mehr Wirtschaftsprofis verwundert und zunehmend verzweifelt, dass Deutschland nicht endlich den Investitionsturbo startet, zumal es diesen dank seines AAA-Ratings und günstigster Kredite fast geschenkt bekommen würde.
Die Schuldenbremse muss weg
Vom internationalen Währungsfonds (IWF) über OECD bis zu den deutschen Wirtschaftsinstituten DIW, IW, den „Wirtschaftsweisen“ und dem Beirat des Bundeswirtschaftsministeriums einig: diese Schuldenbremse bremst Deutschlands Wirtschaftswachstum und damit auch das Europas. Es gefährdet die wirtschaftliche Basis des Landes, die zunehmend auch aus grüner Industrie besteht. Das Politikmagazin „Politico“ zum Beispiel wundert sich über das „Schweigen“ der EU über eine tickende Zeitbombe: den Niedergang der europäischen Solarindustrie, der uns direkt in die nächste geostrategische Abhängigkeit führt.
In eine ähnliche Richtung geht auch der Brandbrief von 50 namhaften Schwergewichten der deutschen Wirtschaft von Deutsche Telekom über Puma und Rossmann bis Thyssenkrupp: Sie fordern von Regierung und Opposition einen klaren politischen Rahmen für den klimafreundlichen Umbau der Wirtschaft. „Andere Staaten wie China und die USA investieren gewaltige Summen in die Transformation. Bei uns dagegen herrschen Unsicherheit und Skepsis“, bringt es der Appell auf den Punkt.
Was Europa jetzt mehr denn je braucht, ist ein positives, ermutigendes Signal aus seiner Mitte: Deutschland kann und muss das Greentech-Zugpferd Europas werden. Es geht um nichts weniger als die Industrie der Zukunft. Unser Kontinent verfügt mit Spitzenforschung in zahlreichen Green- und Deeptech-Bereichen, hochwertigsten Patenten und herausragenden Start-ups über die besten Voraussetzungen, ein Greentech-Hub der Welt zu werden. Erst jüngst bestätigte eine Bertelsmann-Studie, dass Deutschland für die Greentech-Zukunft technologisch bestens aufgestellt ist. Die „Weltklassepatente“ bildeten die Grundlage für die Zukunftsfähigkeit einer Volkswirtschaft. Nur eine Zutat fehlt noch: die Zuversicht in unsere eigene wirtschaftliche Zukunft und die daraus folgenden schuldenfinanzierten Investitionen.
Denn nichts anderes sind solche Kredite: Das Vertrauen darauf, dass die Investitionen von heute für den potenzierten Wohlstand von morgen sorgen. Kein Unternehmen, das auf die eigene Zukunft vertraut, verzichtet auf Kredite. Es vertraut darauf, dass die Investitionen in die eigenen Technologien und Anlagen für einen vielfachen Gewinn in der Zukunft sorgen werden.
1 Billion Euro
Deutschland braucht einen Investitionsruck. Ein Mutmacher-Signal aus dem Herzen Europas heraus – ein 1000 Milliarden Euro schweres Programm bis 2030 mit massiven Investitionen in allen Bereichen, die für die Zukunft relevant sind: Bildung, Digitalisierung und Infrastruktur, aber auch Erneuerbare Energien, Energieeffizienz, Stromnetze, Batterien, Wärmedämmung und Investitionen in Technologien, die bei der dringend benötigten Dekarbonisierung aller Industriebereiche helfen. Zu den wertvollsten Unternehmen der kommenden Dekade werden auch die gehören, deren Technologien dabei helfen, ambitionierte Emissionsziele zu erreichen.
Es gibt viele gute Gründe, mutig in die Zukunft zu schauen: Nach Jahrzehnten des Schneckentempos kommt endlich Speed in die Klimaschutz-Anstrengungen: Strom aus Wind- und Solarenergie ist billiger als je zuvor und wird weltweit in Rekordgeschwindigkeit ausgebaut. Ebenso sinken die Preise für Energiespeicher wie Batterien in ungekannter Geschwindigkeit und liegen bald unter 60 Euro pro kWh. Dass Elektrofahrzeuge noch schneller den Markt erobern werden, ist nur eine Folge. Bei weiteren wichtigen Technologien, von negativen Emissionen über Künstliche Intelligenz bis zu Quantencomputern, gibt es zahlreiche Innovationssprünge.
China und die USA haben sich Ende 2023 darauf geeinigt, ihre Klimaschutz-Anstrengungen weiter zu beschleunigen. Das Institut Climate Analytics kommt in einem Bericht zum Schluss, dass angesichts der extremen Wachstumsraten bei Solarenergie, Windkraft und der Elektrifizierung von Transport und Industrie eine 70-prozentige Chance besteht, dass wir bereits 2023 den Höchststand klimaschädlicher Emissionen überschritten haben.
Warum gibt es im Bereich Klimaschutz plötzlich so viel Bewegung? „It's the economy, stupid“ würde Bill Clinton sagen: Auch die steigenden Preise für CO2-Zertifikate machen Klima-Technologien zu einem global lohnenden Geschäft – das haben die USA und China lange verstanden und unterstützen die aufstrebenden Industrien massiv. Hinzu kommt die geostrategische Komponente der Unabhängigkeit von ausländischer fossiler Energie. Höchste Zeit für Deutschland, den Tanz um das goldene Kalb der Schuldenbremse zu beenden und mit einem 1000 Milliarden-Investitionsplan Europas Greentech-Zukunft zu starten.