Es kommt selten vor, dass Politiker nie dagewesene Großtaten ankündigen und die internationale Presse ihrer Sprachregelung fast wortgleicbh folgt. Doch genau das ist nach dem wichtigen Parteitreffen der Kommunistischen Partei Chinas vor gut einer Woche passiert – wenn auch mit einigen Tagen Verzögerung, in denen Analysten das Plenum zur Luftnummer heruntergeredet hatten.
Seit das erste vage Abschlussdokument jedoch um erklärende Details ergänzt wurde, überschlagen sich die Kommentatoren vor Begeisterung über die „umfassende Transformation der Wirtschaft“ und „das durchschlagendste Reformwerk seit Jahrzehnten.“ Und nicht nur sie: Auch die asiatischen Börsen jubilierten. So sehr, dass sich schon wieder die Frage stellt, ob der Überschwang nach der ersten Enttäuschung nicht schon wieder übertrieben ist.
Um eins vorweg zu nehmen: Das Reformwerk des Zentralkomitees ist in der Tat beeindruckend. Die Parteiführung rund um Präsident Xi Jinping knöpft sich den größten Teil der strukturellen Probleme des Landes vor, die darüber entscheiden werden, ob die chinesische Wirtschaft langfristig wachsen kann oder nicht. Die Vorgaben dazu sind im Bericht bemerkenswert konkret.
Die Partei will nicht nur Zinssätze und Wechselkurse weiter liberalisieren und die geschützten Energie- und Transportsektoren öffnen. Bauern sollen zudem mehr Möglichkeiten bekommen, ihre Landnutzungsrechte an den Dorfkommunen vorbei individuell zu verkaufen. Das steigert das Wachstumspotenzial im ländlichen Raum enorm. Auch das antiquierte Haushaltsregistrierungssystem soll aufgeweicht werden und den vielen Millionen Wanderarbeitern die Integration zumindest in kleine und mittlere Städte erleichtern. Wenn zugleich die großen Staatsunternehmen tatsächlich mehr Dividenden abführen müssen, ließen sich für die vielen neuen Stadtbürger sogar Pensionen bezahlen.
Richtung Konsumgesellschaft
Die Botschaft hinter vielen Beschlüssen lautet „mehr Markt, weniger Pfründe“. Damit leitet die Partei tatsächlich eine umfassende Transformation dvonr Wirtschaft und Gesellschaft ein. Die Chance ist, dass soziale Ungleichheiten verringert und deutlich mehr Chinesen als bisher an den Gewinnen des Wachstums beteiligt werden – was genau jenen Wandel in Richtung einer Konsumgesellschaft ermöglicht, den chinesische wie westliche Ökonomen seit langem predigen.
Und dennoch sind manche Reaktionen auf diese so wichtigen Entscheidungen des Zentralkomittees übertrieben. Die Börsen haben wohl übersehen, dass die Reformagenda entscheidend für die langfristigen Wachstumspotenziale der chinesischen Wirtschaft ist. Die meisten Beschlüsse sollen bis 2020 umgesetzt werden – und angesichts der dafür notwendigen tiefgreifenden Umstrukturierungen auf allen Verwaltungsebenen des Riesenreiches ist das ein durchaus ambitionierter Zeitrahmen.
Die Reformagenda ist aber kein Rezept gegen die Schuldenexplosion und die kurz- und mittelfristigen Wachstumsprobleme des Landes. Sie könnten sich in der Übergangsphase von einem investitionsgetriebenen Wachstumsmodell zur Konsumgesellschaft sogar noch verschärfen.
Die ehrgeizigen Reformen dürften teuer und für viele, insbesondere Lokalregierungen und Staatsunternehmen, schmerzhaft werden – weshalb auch noch lange nicht gesagt ist, dass sie sich so umsetzen lassen, wie es jetzt auf dem Papier steht.
Führungsriege auf Reformkurs
Der Westen zeigt sich schnell beeindruckt von vermeintlich allmächtigen chinesischen Technokraten, die gewaltige Umwälzungen mit einem eleganten Federstrich einleiten und durchziehen – frei von demokratischen Fesseln. Dabei wird übersehen, wie zäh und komplex der Prozess der internen Konsensfindung hinter den Kulissen ist.
Es war alles andere als selbstverständlich, dass es Xi Jinping gelungen ist, zumindest unter den 371 obersten Kadern diese Unterstützung zu bekommen. Das Ergebnis des Parteitages demonstriert, dass nun zumindest die oberste Führungsriege auf Reformkurs ist. Wie sehr sie sich tatsächlich durch das ganze Land und das ganze System wird durchsetzen können, ist noch völlig offen.
Der wirtschaftliche Öffnungskurs macht Xi und seine Kollegen auch noch lange noch nicht zu Liberalen im weiteren Sinne. Die überfällige Abschaffung der Arbeitslager sowie die Lockerungen in der Einkindpolitik verleiteten manchen Beobachter schon zu dem Schluss, dass die neue Garde das Land ein Stück in Richtung Demokratie führen werde.
Das System bleibt autoritär
Das Gegenteil scheint bisher der Fall: Gegen Dissidenten und Anwälte in Menschenrechtsfragen ist Xi Jinping bisher sogar härter vorgegangen als sein Vorgänger. Auch die Medien nimmt er stärker an die Kandare. Die neue Parteiführung sieht weniger denn je einen Widerspruch zwischen einer offenen Wirtschaft und einem autoritären politischen System.
Apropos Einkindpolitik: Hier ändert sich ohnehin weniger als es auf den ersten Blick erscheinen mag. Künftig sollen Paare zwei Kinder bekommen dürfen, wenn mindestens einer der Partner selbst Einzelkind ist. Das dürfte mittlerweile auf die überwiegende Mehrheit der chinesischen Paare unter 30 zutreffen und bedeutet de fakto eine Zweikindpolitik. Der Sprung ist indes kleiner als er aussieht. Schon jetzt steht Paaren, bei denen beide Einzelkind sind, ein zweites Kind zu. Weitere zahlreiche Ausnahmen gibt es im ländlichen Raum und für ethnische Minderheiten. Abgesehen davon wollen viele Chinesen schon längst nicht mehr viele Kinder – oder sie leisten sich bereits die Geldbußen für ein zweites, wenn die Finanzen es zulassen.
Die größte Enttäuschung könnte sich daher gerade bei jenen Aktienwerten einstellen, die jetzt am euphorischsten auf die Reformpläne reagiert haben: Hersteller von Windeln und Milchpulver.
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