Nach einem Jahr Krieg können erstaunlich viele Menschen in diesem Land diverse Waffengattungen und Modelle fehlerfrei herunterbeten wie zuvor die Corona-Varianten. In solchen Zeiten ist die Kunst der Abwägung nicht einfach, und es schadet nicht, auch einmal zu zögern. Man kann es nicht oft genug wiederholen: Deutschland ist inzwischen ein Hauptlieferant von Waffen in ein Kriegsgebiet, wo sich eine Atommacht in einen Stellungs- und Abnutzungskrieg vergräbt. „Wir dürfen nicht vergessen, dass wir in einer Konfrontation mit Russland stehen“, sagt der britische Historiker Adam Tooze, „und dass dies letztendlich immer eine atomare Konfrontation sein kann.“
Der Kanzler hat allerdings mit seinem Zaudern – das nun als strategische Weitsicht verkauft wird – erneut vermocht, Deutschland zu blamieren. Nach den USA unterstützt kein Land die Ukraine mehr mit Geld und Waffen, steht aber stets als Blockierer und Bremser da. Da ist der Schluss nicht weit, dass es ja auch die Deutschen waren, die sich von den Russen blenden ließen, sich willfährig in Putins Klauen begaben. Und mit ihrer „Tür“, die sie „nach Moskau offenhalten“, immer noch nicht wahrhaben wollen, was passiert ist.
All diese Interpretationen sind Zerrbilder, ohne ganz falsch zu sein. Im Ergebnis fehlt der deutschen Linie Klarheit, die von Olaf Scholz’ Spindoktoren gern im Nachhinein konstruiert wird. Darin war Scholz schon immer gut: dem Umfeld und Beobachtern zu vermitteln, dass sie nicht sehen, was er sieht. Die USA, die skandinavischen Länder, Großbritannien, Frankreich und viele Länder Osteuropas sind oder wirken – nicht immer aus den gleichen Motiven, Interessen und Lehren ihrer Geschichte – in ihrem Kurs entschlossener.
In der Erinnerung bleiben die Helme
Nach einem Jahr ist die Debatte um Waffenlieferungen ziemlich aufgeheizt und vergiftet. Deutschland führt zwar auch große Worte von der „Unterstützung der Ukraine“. Deutsche Politiker reisen nach Kiew und Charkiw, unser Land gibt viele Milliarden plus Panzerabwehrwaffen, Flugabwehrraketen, Maschinengewehre, Munition und Fahrzeuge. In der Substanz kann man Deutschland keinen Vorwurf machen. In Erinnerung bleiben indes die Helme, die Deutschland erst liefern wollte. Es geht um mehr als um Kommunikation, falsches Timing oder Abzüge in der B-Note. Als Führungsmacht in Europa, als die uns manche Politiker immer wieder ausrufen, werden wir nicht wahrgenommen.
Dafür gibt es zwei Gründe, und nur einer hat mit dem Krieg zu tun. Der erste scheint in der Debatte auf, ob Europa, die Nato und Deutschland inzwischen Kriegspartei sind. Völkerrechtlich sind wir das nicht, solange nicht Soldaten auf ukrainischem Boden kämpfen. Wir haben aber Partei in einem Krieg ergriffen, was historisch eher die Regel als die Ausnahme ist. In all den Debatten um Waffenlieferungen fehlt allerdings noch immer das, was Historiker und Politikwissenschaftler ein Kriegsziel nennen – für die Ukraine ist dieses Ziel klar: Sie wollen ihr gesamtes Land von russischen Truppen befreien.
Der Westen hat dieses Kriegsziel nie eindeutig formuliert: „Die Ukraine muss diesen Krieg gewinnen“, lautet eine Umschreibung. „Russland darf diesen Krieg nicht gewinnen“, eine andere – die einen feinen Unterschied markiert. Begleitet wird das diffuse Ziel der Unterstützung der Ukraine von der Vorstellung, dass 2023 das Jahr des Friedens wird. Danach sieht es nicht aus.
Deutschland hat keine Vision für die Zukunft
Wenn es das Ziel des Westens ist, dass Russland mit dem Angriffskrieg und Bruch des Völkerrechts keinen Erfolg hat, dass Russland der Ukraine ihr Land zurückgibt und aufhört, die Bevölkerung zu terrorisieren – dann wäre das Kriegsziel identisch mit dem Ziel Kiews. Dann sollte man nach den Leopard-Panzern keine roten Linien ziehen.
Der zweite Grund, warum Deutschland nicht als Führungsmacht in Europa wahrgenommen wird, liegt tiefer. Eine mögliche Wurzel hat er in der Euro-Schuldenkrise 2010/2011. Die Symptome ließen sich dieser Tage bei den Feiern zum 60-jährigen Bestehen des Élysée-Vertrages beobachten, mit dem 1963 das Fundament der deutsch-französischen Freundschaft gelegt wurde. Dabei geht es nicht um die Verstimmungen, die es in den Wochen zuvor zwischen beiden Ländern gegeben hatte.
Zur Führung gehört auch ein Leitbild, eine Vision für die Zukunft. Seit Jahren gibt es dazu Vorschläge aus Frankreich – die man nicht teilen muss –, die aber verhallen und auf keine Resonanz, keine Reaktion oder gar einen stolzen Gegenentwurf aus Berlin stoßen. Seit über einem Jahrzehnt gestaltet Deutschland Europa nicht, sondern lässt sich treiben oder ist getrieben, begleitet von der Sorge, dass viele Länder am Ende doch nur unser Geld wollen. Also gibt es ein Vakuum, Deutschland führt und gestaltet nicht – unterhält den Kontinent aber mit allerlei Sonderwegen, etwa in seiner Energiepolitik.
Der Krieg traf auf dieses Vakuum; er schweißte Europa zwar in gewisser Weise zusammen, genauso wie die Pandemie es teilweise tat – so entstand etwa der Corona-Rettungsfonds. Aber die Not erzeugt noch keine Führung, weshalb es eher die USA und Großbritannien waren – zwei Mächte außerhalb der EU –, die den Takt vorgaben.
Wenn das Ziel aber unklar ist, und im Hintergrund das Vakuum ungeklärt und ungefüllt, muss man ein Zaudern nicht verklären.