Wie steht es aktuell um die Verhandlungen?
Noch überwiegen die Streitpunkte. Während die EU im Gegenzug für einen unbegrenzten, zollfreien Warenverkehr auf gleiche Wettbewerbsbedingungen – darunter Datenschutz-, Sozial- und Umweltstandards – beharrt, pocht Großbritannien auf seine Souveränität. Zuletzt sorgten aber vor allem der Zugang zu britischen Gewässern und die Regelungen staatlicher Subventionen für Zwist : Großbritannien will die Fangquoten für den EU-Fischfang begrenzen, um die eigenen Fischer zu schützen. Vor allem Frankreich widersetzt sich hartnäckig. Anfang Oktober hat die britische Regierung eine Übergangsphase von drei Jahren in Aussicht gestellt, in der die Fangquoten für Fischer aus EU-Ländern langsam heruntergefahren werden könnten. Beim Umgang mit staatlichen Subventionen zeigt sich das Vereinigte Königreich weniger nachgiebig. Entgegen der europäischen Forderung nach strikten Antidumping-Regeln, sieht das kürzlich vom Unterhaus verabschiedete Binnenmarktgesetz vor, dass Großbritannien Subventionen nach eigenem Ermessen und ohne Absprache mit der EU vergeben kann.
Welche Rolle spielt das Binnenmarktgesetz für die Verhandlungen?
Das Gesetz hat für Zündstoff bei den ohnehin schon schwierigen Verhandlungen gesorgt. Konkret geht es dabei um die lang umstrittene Rolle von Nordirland. In der Brexit-Vereinbarung hat die Regierung in London zugestimmt, dass Nordirland in einer Zollunion mit der EU bleiben werde; dort gelten demnach bei einem Freihandelsabkommen die Regeln des EU-Binnenmarktes. Das britische Binnenmarktgesetz sieht dagegen vor, dass alle vier Nationen des Vereinigten Königreiches zu einem Binnenmarkt gehören. Das Gesetz hebelt damit Teile der Brexit-Vereinbarung aus – und schafft damit eine harte Zollgrenze zwischen Nordirland und der Republik Irland. Premierminister Boris Johnson gibt offen zu, dass sich seine Regierung damit nicht an internationale Abkommen hält. Die EU befürchtet ein Wiederaufflammen des Nordirland-Konflikts und damit verbundene politische Unruhen. Eine Frist, die entsprechenden Klauseln zurückzunehmen, hat Großbritannien ignoriert. Jetzt prüft die EU rechtliche Schritte, die für Großbritannien mit Strafzahlungen verbunden sein könnten. Beharrt Großbritannien auf dem Binnenmarktgesetz und wird es unverändert von Oberhaus bestätigt, bricht das Land Völkerrecht.
Welche Beweggründe stehen hinter dem Verhalten der britischen Regierung?
Die im Brexit-Vertrag getroffene Vereinbarung könnte dazu führen, dass Nordirland vom Vereinigten Königreich abgekoppelt wird. Das will Johnson unbedingt vermeiden. Das Binnenmarktgesetz hat auch innenpolitisch einen hohen Stellenwert. Großbritannien müsste keine Rücksicht mehr auf das europäische Wettbewerbsrecht nehmen und könnte seine eigene Wirtschaft mit Subventionen oder niedrigen Steuersätzen fördern. Das stärke die Wirtschaft und sichere Arbeitsplätze, so die Strategie der konservativen Regierung. Allen voran Chefberater Dominic Cummings sieht in staatlichen Subventionen ein Symbol britischer Souveränität und den Schlüssel zur Stärkung des britischen Technologiesektors als neue Stütze der künftigen Wirtschaft. Für Cummings habe das eine höhere Priorität als der Brexit-Deal, wie die „Financial Times“ unter Berufung auf Regierungskreise berichtet . Der rechte Flügel der konservativen Tories schätzt die wirtschaftlichen Folgen eines harten Brexits verglichen mit der Corona-Pandemie außerdem deutlich schwächer ein und setzt Johnson zusätzlich unter Druck .
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Wie hoch ist das Risiko eines harten Brexits?
Solange keine Einigung beider Seiten in Sicht ist, bleibt das Risiko für einen harten Brexit bestehen. Zwar hatten Boris Johnson und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen am Samstag noch gemeinsam beteuert, dass man „wenn irgend möglich“ eine Vereinbarung anstrebe . Dem britischen Sender BBC sagte Johnson allerdings schon am Sonntag, man könne mit einem harten Brexit „mehr als leben“ . Die EU müsse verstehen, dass es Großbritannien „mit der Notwendigkeit, unsere eigenen Gesetze und Vorschriften zu kontrollieren, äußerst ernst ist“, sagte Johnson weiter. Ein harter Brexit birgt aber auch erhebliche wirtschaftliche Kosten. Einer Studie der London School of Economics zufolge würde ein harter Brexit Großbritannien sechs Prozent Wirtschaftswachstum kosten , die Corona-Pandemie dagegen gerade einmal zwei. Ein Handelsabkommen könnte die herben Verluste durch die Corona-Pandemie abmildern.
Wie verändern sich die Handelsbeziehungen, wenn keine Einigung für ein Abkommen erzielt wird?
Zwar haben verstrichene Fristen und Verlängerungen rund um den Brexit schon fast Tradition. Brüssel hat allerdings mehrfach deutlich gemacht, dass sich am Ende der sogenannten Übergangsphase zum 31. Dezember nichts ändern wird. Danach gelten bei einem harten Brexit die Regelungen der Welthandelsorganisation. Für alle Importe zwischen Großbritannien und der EU wären damit Zölle fällig, inklusive des damit verbundenen Papierkrams. Lange Schlangen an den Grenzen sind wahrscheinlich. Der britische Brexit-Minister Michael Gove rechnet bereits mit einem Stau von bis zu 7000 Lkws an der Grenze in Dover. Das würde sich wiederum auf die Preise auswirken. Auch die Frage nach der Gültigkeit von Lizenzen und beruflichen Abschlüsssen, ist bislang offen. Für Schlüsselbranchen wird bereits mit Übergangsregelungen von Seiten der EU gerechnet.
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