Zu Beginn der Corona-Pandemie hätte wohl kaum jemand erwartet, dass viele Länder heute mit Bewunderung oder gar Neid nach Großbritannien blicken – denn dort haben bereits 30 Prozent der Bevölkerung ihre erste Impfung gegen Covid-19 erhalten. Damit steht Großbritannien im europäischen Vergleich an der Spitze. Zum Vergleich: In Deutschland haben gerade einmal fünf Prozent der Menschen ihre erste Impfung bekommen .
Dabei verlief der britische Kurs in der Pandemie-Bekämpfung alles andere als gradlinig. Erst Ende März des vergangenen Jahres legte Premierminister Boris Johnson eine strategische Kehrtwende hin – weg von der angestrebten Herdenimmunität hin zu weitreichenden Ausgangsbeschränkungen.
Der eigentlich der Plan lautete: Gesunde, fitte Briten sollten mit dem Virus in Kontakt kommen, um möglichst bald eine Herdenimmunität zu erreichen. Mitverantwortlich, wenn nicht sogar entscheidend, für den Strategiewechsel war wohl eine Studie des Londoner Imperial College, die berechnet hatte, wie viele Leben die ursprüngliche Strategie der Regierung kosten würde. Boris Johnson änderte daraufhin seinen Ton und seinen Kurs und verhängte weitreichende Ausgangsbeschränkungen. Zu spät, fanden viele Kritiker.
Entscheidungen mit Risiko
Im Dezember folgte ein weiterer Strategieschwenk. Eigentlich hatte Johnson den Briten ein Weihnachtsfest mit Lockerungen und Familientreffen versprochen. Dann musste der Premier seiner Bevölkerung und der ganzen Welt verkünden, dass in Großbritannien eine Mutation des Coronavirus aufgetaucht war, die auch noch deutlich ansteckender ist als die bisher verbreitete Variante. B.1.1.7, bald „britische Variante“ genannt, wurde schnell zur dominanten Virusform im Königreich – und anstelle des versprochenen geselligen Weihnachtsfestes wurden die geltenden regional unterschiedlichen Teil-Lockdowns verlängert. Einen zentralen Lockdown verhängte Johnson dennoch nicht.
Kurz danach, gleich zu Beginn des neuen Jahres spitze sich die Lage dramatisch zu, viele britische Intensivstationen standen vor dem Kollaps, besonders kritisch war die Lage in der Hauptstadt London. Zeitweise verzeichnete Großbritannien mehr als 60.000 Neuinfektionen am Tag. Insgesamt starben im Januar in Großbritannien beinahe so viele Menschen wie während der ersten Welle der Pandemie.
So kam er schließlich doch, der landesweite Lockdown. Und die britische Regierung traf eine weitere wegweisende Entscheidung: Sie streckte den Zeitraum zwischen den Impfungen von drei oder vier auf ganze zwölf Wochen. Ein Risiko, denn darüber, wie das die Wirksamkeit der Impfungen verändert, lagen zu diesem Zeitpunkt noch keine Daten vor. Biontech warnte gar vor dieser Maßnahme. Inzwischen deuten erste Studien darauf hin, dass zumindest der Astrazeneca-Impfstoff auch nach einer Pause von drei Monaten wirksam bleibt.
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Impfstoff: Schnellere Bestellung und mehr Dosen
Die Pandemie hat Großbritannien schwer gebeutelt. Auch wirtschaftlich traf es das Land massiv, das ja auch noch den Brexit verkraften muss: So verzeichnete es im zweiten Quartal 2020 einen Rückgang des Bruttoinlandsproduktes um 21,7 Prozent im Vergleich zum Vorjahresquartal.
Wie konnte sich das Vereinigte Königreich also zum europäischen Spitzenreiter in Sachen Impfkampagne mausern? Eine wichtige Rolle dabei dürfte die eigens eingerichtete Impfstoff-Taskforce gespielt haben, deren Vorsitz bis Dezember 2020 Kate Bingham innehatte, eine Unternehmerin, die normalerweise in Medizintechnologien investiert.
Die Taskforce entschied, nicht am Impfstoff-Programm der EU teilzunehmen – weil ihnen die Bedingungen zu eng erschienen, wie Bingham im britischen Parlament sagte. Die Taskforce-Chefin war umstritten wegen ihrer engen Verbindungen zur Konservativen Partei – und weil sie mehr als 600.000 Pfund für PR-Berater ausgegeben haben soll.
Bingham vereinfachte und beschleunige Entscheidungsprozesse, die Taskforce bestellte früh viele Impfstoffkandidaten. So war Großbritannien das erste Land, das einen Vertrag zur Impfstofflieferung mit Pfizer/Biontech abschloss. Auch den Vertrag mit Astrazeneca schlossen die Briten drei Monate früher ab als die Europäische Union. Insgesamt orderten britische Behörden schon früh 367 Millionen Dosen der sieben aussichtsreichsten Impfstoff-Kandidaten. Es dauerte nicht lange bis die ersten Brexit-Befürworter den Impfstoff-Erfolg auf den EU-Austritt zurückführten.
Großbritannien wird zum Impf-Europameister
Doch nicht nur bei der Bestellung, sondern auch bei der Zulassung der Impfstoffe agierte Großbritannien schnell. Die britische Zulassungsbehörde ließ als erstes westliches Land einem Covid-Impfstoff zu. Der NHS als zentral organisiertes Gesundheitssystem, das mehr als 90 Prozent der Briten versorgt, vereinfachte die Impf-Organisation zusätzlich.
In der britischen Bevölkerung gibt es eine breite Offenheit für die Impfungen: Die Impfbereitschaft ist deutlich höher als in Deutschland – und die Skepsis gegenüber dem Impfstoff von Astrazeneca aus dem eigenen Land ist deutlich geringer. So gaben in einer Befragung der Beratungsfirma Kekst CNC im Februar 89 Prozent der Briten an, sich gegen Corona impfen lassen zu wollen. In Deutschland waren es nur 73 Prozent.
Doch durchgestanden hat Großbritannien die Pandemie trotz der vergleichsweise hohen Impfquote noch lange nicht. Erst kürzlich kündigte Johnson einen erneuten Strategiewechsel an. Im Juni sollen alle Corona-Einschränkungen enden. Wie sich das auf das Pandemiegeschehen auswirken wird, ist völlig unklar. Der darbenden Tourismusbranche hat die Ankündigung Schwung gegeben: Die Urlaubsbuchungen für den Sommer schossen in die Höhe.
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