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Klimawandel Klimaschutz und die Wirtschaft: Wie misst man CO2?

Emissionen sind nicht messbar, sondern müssen berechnet werden.
Emissionen sind nicht messbar, sondern müssen berechnet werden.
© Illustration: Simon Landrein
Wenige Zahlen sind politisch so aufgeladen wie der CO2-Ausstoß. Für jede Volkswirtschaft wird er neben dem BIP eine zentrale Kennziffer werden. Aber: Wie berechnet man die Emissionen eigentlich?

Die Zahl, die mit über die Zukunft des Weltklimas entscheiden soll, stammt aus Dessau. Hier im glasüberdachten Innenhof des Umweltbundesamts (UBA) grünt es grün, es gedeihen der Scheinknöterich oder der Erdbeerbaum. Dirk Günther reicht das offenbar nicht. In seinem Büro, in dem die entscheidende Zahl jedes Jahr Gestalt annimmt, ­ragen ein knappes Dutzend Zimmerpflanzen in die Höhe. Sie sehen aus, als würden sie liebevoll umsorgt.

Die Zahl, an der Dirk Günther und seine Kollegen das ganze Jahr arbeiten, lautete zuletzt: 866 Millionen. So viele Tonnen Kohlendioxid (CO2) hat Deutschland 2018 umgerechnet produziert. Es ist zwar nur ein Bruchteil der globalen Klimagas­emissionen, die im Jahr davor bei 53,5 Milliarden Tonnen lagen – und doch ist die Zahl hochpolitisch.

Denn die Bundesregierung hat sich zum Ziel gesetzt, die Treibhausgasemissionen in Deutschland deutlich zu senken. Im Vergleich zu 1990 sollen sie bis zum Jahr 2020 um 40 Prozent niedriger liegen, bis 2050 gar um 80 bis 95 Prozent. Die Ziele sind ehrgeizig und zumindest für 2020 nicht mehr zu schaffen – im kommenden Jahr dürften es nämlich nur 751 Millionen Tonnen sein. Andere Staaten hinken ihren Verpflichtungen ähnlich hinterher – während weltweit laut darüber gestritten wird, ob diese Ziele nicht ohnehin viel zu lasch gesteckt seien.

Aber, und das ist ja eine entscheidende Frage: Wie wird denn ­eigentlich ermittelt, wie viel Klimagase ein Land pro Jahr produziert?

Rechnen statt messen

Eben dafür braucht es Dirk Günther, 47, Nickelbrille, zwei Ohrringe, verschmitztes Lächeln. Er ist Koordinator Nationales System Emissions­inventare beim UBA. Günther und ein Dutzend Kollegen haben die Aufgabe, Deutschlands Beitrag zum weltweiten Ausstoß von Treibhausgasen zu ermitteln. Die Zahl bemisst sich in Tonnen CO2-Äquivalent. Das heißt, dass andere Treibhausgase in ihrer Klimawirkung multipliziert und den CO2-Emissionen hinzugerechnet werden. Methan etwa ist 25-mal, Lachgas sogar fast 300-mal klimaschädlicher als Kohlendioxid.

„Der Grundsatz ist: Wir messen die Emissionen nicht, sondern berechnen sie“, sagt Günther. „Das ist wesentlich genauer und zuverlässiger.“ Denn: Eine komplette Messung ist de facto unmöglich.

Hierfür nämlich müsste man Sensoren an Abermillionen Fabrikschloten, Auspuffen, Heizungsanlagen und Kaminen anbringen. Ganz zu schweigen von den Tieren – Kühe etwa produzieren beim Verdauen stetig Methan. Obendrein müsste man darauf achten, dass sämtliche Sensoren richtig kalibriert werden – und was wäre, wenn einer kaputtgeht oder manipuliert wird?

Aktivitätsrate mal Emissionsfaktor

Stattdessen also wird der Treibhausgasausstoß berechnet. Entscheidend dabei sind immer ­jeweils zwei Werte: die Aktivitätsrate und der Emissionsfaktor. Die Aktivitätsrate beschreibt das Ausmaß eines bestimmten Emissionsvorgangs: Wie viel Kohle verfeuern Deutschlands Stromerzeuger in den Kraftwerken? Wie viele Kilometer fahren alle Fahrzeuge des Landes im Jahr? Der Emissionsfaktor gibt dazu an, wie hoch dabei die durchschnittlichen Emissionen sind – pro Tonne Kohle oder je Kilometer. Am Ende lautet die Formel schlicht: Aktivitätsrate mal Emissionsfaktor.

Doch hinter der scheinbar simplen Rechnung steckt ein Wust von Werten, die sich ständig verändern. Der Emissionsfaktor der deutschen Fahrzeugflotte etwa wird nicht nur durch die wachsende Zahl von Elektroautos bewegt, sondern vor allem von zwei gegenläufigen Trends: Einerseits sind Autos immer effizienter, sodass ihr Verbrauch im Verhältnis zur Leistung sinkt – andererseits aber fahren die Deutschen ­Autos mit immer mehr PS.

Rund 80 Prozent der Daten für die Aktivitätsraten beschafft sich das UBA aus amtlichen Statistiken, allen voran vom Statistischen Bundesamt. Über die verfeuerte Kohle etwa geben sie recht präzise Auskunft. Schwieriger wird es beim letzten Fünftel. Um an die Daten zu gelangen, geht das UBA oft Kooperationen ein, etwa mit Industrieverbänden – oder es beauftragt gleich Forschungsinstitute.

Natürlich kann sich da mal ein Zahlendreher einschleichen
Dirk Günther

„Wir müssen aufpassen, keine Emissionen zu übersehen“, sagt Günther. Eine solche „Fehlstelle“ beispielsweise, die die UBA-Leute vor ein paar Jahren entdeckten: ausrangierte Schallschutzscheiben. Die sind oft mit Schwefelhexaflourid gefüllt, einem Stoff mit der mehr als 23.000-fachen Klimawirkung von CO2. Landen die Scheiben auf dem Müll, entweicht das Gas in die Atmosphäre. Nun erfasst das UBA auch das im Emissionsinventar.

Die Daten werden nach Sechs-Augen-Prinzip eingegeben und immer wieder auf Plausibilität überprüft. Fehler seien nie ganz auszuschließen, sagt Günther: „Wir haben rund 50.000 Daten-Zeitreihen für jeweils mehr als 25 Jahre, das macht über 1,25 Millionen Felder. Natürlich kann sich da mal ein Zahlendreher einschleichen.“ Der werde aber früher oder später entdeckt.

Aus allen Daten macht das UBA schließlich die eine Zahl. Wie, das ist genau festgelegt im „Kochbuch“ – so nennt Günther die sieben Aktenordner in Regenbogenfarben im Regal. „IPCC Guidelines für National Greenhouse Inventories“ steht da­rauf: die Berechnungsrichtlinien des Weltklimarats. Günther schlägt den roten Ordner auf. Innen finden sich Hunderte eng beschriebene Blätter, die bis ins Detail die jeweils erlaubten Berechnungsmethoden erklären.

Statistische Ungenauigkeiten

„Mittlerweile bildet das deutsche Inventar die Realität schon sehr gut ab“, sagt Günther. Muss es auch, denn Deutschland wird kontrolliert. Jedes Jahr checkt ein Expertenteam des UN-Klimasekretariats die Zahlen von 43 Industrieländern: den sogenannten Annex-1-Staaten des Kyoto-Protokolls, die ihre Daten alle nach demselben Verfahren ermitteln wie Deutschland.

Wie aber funktioniert das in anderen Staaten, etwa in Afrika, die bestenfalls ein rudimentäres Statistikwesen haben?

Häufig funktioniere das nicht, sagt Günther, „weil Ressourcen und Kapazitäten fehlen“. Noch sind Entwicklungs- und Schwellenländer auch nicht verpflichtet, ihre Angaben kontrollieren zu lassen – selbst Emittenten wie China, das heute mindestens zwölfmal so viele Treibhausgase wie die Bundesrepublik ausstößt: Sie können Zahlen melden, ohne ihr genaues ­Zustandekommen offenzulegen. Erst ab 2024 müssen sich diese Staaten solch genauen Prüfungen stellen wie die Industrienationen.

„Wenn man den Treibhausgasausstoß der Welt bloß auf den Angaben dieser Länder errechnen würde, wäre die Zahl ungenau“, sagt Günther. Besser lassen sich die wahren Werte über andere Statistiken ermitteln: etwa denen der Internationalen Energieagentur zum Verbrauch fossiler Brennstoffe oder denen der Welternährungsorganisation über die landwirtschaftliche Produktion. Zwar beruhen auch diese auf Daten, die die Länder selbst melden – doch gelten die seit Jahrzehnten erhobenen Zahlen als zuverlässiger.

Das Interview ist in Capital 12/2019 erschienen. Interesse an Capital? Hier geht es zum Abo-Shop , wo Sie die Print-Ausgabe bestellen können. Unsere Digital-Ausgabe gibt es bei iTunes und GooglePlay

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