Anfang Oktober hat US-Präsident Joe Biden Chinas Chip-Industrie mit weitreichenden Exportbeschränkungen belegt. Damit wird ihr nicht nur der Zugang zu bestimmten Halbleiter-Chips verwehrt, die mit US-Maschinen weltweit produziert werden. Sondern, US-Staatsangehörige dürfen auch die Entwicklung und Produktion in chinesischen Halbleiterwerken nicht mehr unterstützen: Bei Verstößen kann sogar die US-Staatsangehörigkeit entzogen werden.
„So sieht Auslöschung aus. Chinas Halbleiterindustrie wurde über Nacht auf null reduziert. Kompletter Kollaps“, zitierte Jordan Schneider von der Beratungsgesellschaft Rhodium Group den Tweet eines chinesischen Tech-Influencers und Entrepreneurs. So weit geht Jan-Hinnerk Mohr, Halbleiter-Experte bei der Beratungsfirma Boston Consulting Group, im Gespräch mit ntv.de nicht. Aber auch er sieht in den weitreichenden Exportbeschränkungen eine neue Eskalationsstufe. „Der US-Bann ist nicht der Untergang der chinesischen Halbleiterindustrie, aber es ist ein sehr großer Rückschlag für die Branche“, sagt Mohr.
China habe in den vergangenen Jahren viel Geld in die Fertigung von Halbleitern gesteckt, sei damit aber nicht erfolgreich gewesen. Auch die Versuche, Fachkräfte etwa aus Taiwan abzuwerben, hätten nur wenig Erfolg gezeigt. „Der große Durchbruch ist ausgeblieben.“ Wie viele amerikanische Fachkräfte von dem Bann betroffen sind, kann Mohr nicht beziffern. Es ginge aber nicht so sehr um die Quantität, sondern Qualität im Sinne von speziellem Knowhow.
„Von dem US-Bann sind hoch qualifizierte Experten betroffen, insbesondere Angestellte von amerikanischen Herstellern von Halbleiterproduktionsmaschinen wie KLA, Lam Research und Applied.“ Sie alle haben ihren Sitz in China und sind von enormer Bedeutung. „Die Maschinen sind komplexer als ein Spaceshuttle und müssen kontinuierlich gewartet werden“, sagt Mohr. Wenn die Fachkräfte das Land verlassen müssen, schadet das massiv.
Ziel ist nicht nur die Technologieführerschaft
Ähnlich sieht das auch Antonia Hmaidi, Analystin beim Mercator Institut für Chinastudien. „Internationale Talente sind einer der Wachstumstreiber der chinesischen Chip-Industrie“, sagt sie ntv.de. Schon vor den Sanktionen habe China, nicht zuletzt wegen seiner strengen Null-Covid-Politik, Probleme gehabt, geeignete Fachkräfte zu finden.
Nach Einschätzung von Experten könnten die Sanktionen die chinesische Chip-Industrie um Jahre zurückwerfen. „In der Halbleiterindustrie steckt unvorstellbar viel Knowhow, das ist nur schwer zu kopieren“, sagt Mohr. Er schätzt, China könnte um fünf bis zehn Jahre abgehängt werden. Und genau darum geht es Washington. „Die amerikanische Führung hat klargemacht, dass das Ziel nicht nur die Technologieführerschaft ist. Vielmehr soll China auch so weit wie möglich hinter sich gelassen werden“, sagt auch Hmaidi.
Dabei geht es den USA nicht nur um den technologischen Fortschritt, sondern auch um Sicherheitsbedenken. Amerikanische Chips sind nicht nur in Verbraucheranwendungen weit verbreitet, sie werden auch im militärischen Bereich eingesetzt – zum Beispiel bei der Durchsuchung von Satellitenbildern nach Waffen oder Stützpunkten und beim Filtern digitaler Kommunikation zur Nachrichtenbeschaffung. Das US-Handelsministerium erklärte, man wolle „verhindern, dass fortschrittliche Technologien in die falschen Hände geraten.“
Der US-Halbleiter-Verband Semiconductor Industry Association begrüßt die Maßnahmen. Die neuen Regeln dürften die Innovation in den USA „vor Chinas räuberischen Aktionen schützen“, heißt es in einer Mitteilung. Auch andere Länder sollten sich an den US-Vorschriften beteiligen, um die Wirkung der Maßnahmen zu verstärken.
Regierung lädt Chip-Branche zu Krisentreffen ein
Analysten zufolge werden die Maßnahmen die chinesischen Wachstumspläne zunichtemachen und möglicherweise Innovationen bremsen. In Peking schrillen die Alarmglocken. Um eventuell noch rechtzeitig gegensteuern zu können, hat die chinesische Regierung bereits ihre Chip-Branche zu einem Krisentreffen zusammengetrommelt, bei dem die Auswirkungen des US-Banns besprochen worden sind, berichtet die Nachrichtenagentur Bloomberg. An den Gesprächen hinter verschlossenen Türen war unter anderem der chinesische Speicherchip-Anbieter YMTC beteiligt.
Vor Vergeltungsschlägen muss sich Europa laut Mohr nicht fürchten. „Die Chinesen können sich gegen den US-Bann schwer wehren und haben kaum Möglichkeiten für unmittelbare Gegenmaßnahmen.“ Die Abhängigkeit auf dem Gebiet sei schlicht zu groß. Es kursieren allerdings auch andere Annahmen unter Experten: Demnach könnten die US-Exportbeschränkungen chinesische Chiphersteller auch dazu veranlassen, neue kreative Lösungen zu finden und ihren eigenen Weg zu gehen. Selbst wenn diese auf längere Sicht keinen kommerziellen Erfolg haben werden.
„Die technische Abkopplung könnte Chinas Sputnik-Moment in Sachen Innovation sein, der das Land dazu zwingt, sich auf sich selbst zu verlassen“, so Ökonomen der Citigroup. Sie vergleichen die weitreichenden Sanktionen mit dem Anstieg der Ausgaben und der Forschung in den Vereinigten Staaten nach dem Start des ersten Satelliten der Welt durch die Sowjetunion.
Dieser Artikel ist zuerst auf n-tv.de erschienen.