Die Abgeordneten des Wirecard-Untersuchungsausschusses saßen vergangene Woche schon zwei Tagen zusammen, als die letzte Zeugin kurz vor Schluss noch einen Knalleffekt setzte. Die Münchner Oberstaatsanwältin Hildegard Bäumler-Hösl sprach über den Sonderbericht der Prüfer von KPMG, die monatelang den Bilanzfälschungsvorwürfen gegen den Zahlungskonzern nachgegangen waren und Ende April 2020 ihr Ergebnis vorlegten. Ab Mitte Mai machte sich die Staatsanwaltschaft an die Lektüre.
Natürlich sei der KPMG-Bericht für Wirecard „verheerend“ ausgefallen, sagte die Chefermittlerin im Ausschuss. Der Konzern sei ein „reiner Chaotenhaufen“ gewesen. Allerdings, so Bäumler-Hösl, habe man dem Bericht entnommen, dass es das Geschäft mit Drittpartnern und eine Milliardensumme auf Treuhandkonten auf den Philippinen, an deren Existenz massive Zweifel bestanden, „grundsätzlich“ gebe. Fraglich war nach Lesart der Ermittler demnach nur, wie das Geld auf die Philippinen gekommen sei. Wirecard hatte während der laufenden KPMG-Untersuchung seinen Treuhänder gewechselt – von einem Dienstleister in Singapur zu einer philippinischen Anwaltskanzlei.
Die Aussage, dass die Staatsanwälte noch bis kurz vor dem Kollaps der Wirecard-Story glaubten, wonach der Konzern über ein reales Milliardenvermögen in Asien verfüge, brachte die nach insgesamt fast 30 Stunden Anhörungen langsam ermatteten Abgeordneten noch einmal in Fahrt. Tatsächlich hatten die KPMG-Prüfer in ihrem Bericht notiert, ihnen sei es nicht gelungen zu verifizieren, ob die angeblichen Umsatzerlöse in Asien existieren. Es liege ein „Untersuchungshemmnis“ vor. Aus Sicht von KPMG war diese Formulierung ein eindeutiger Wink, wie ein leitender Prüfer im Herbst bei seiner Aussage im Wirecard-Ausschuss andeutete: „Unser Bericht spricht für sich.“ Manch ein Beteiligter bei KPMG erwartete nach der Veröffentlichung sogar, dass die Staatsanwaltschaft sofort aktiv wird und zur Razzia in der Aschheimer Konzernzentrale anrückt.
Ein Mosaik aus großen Platten
Doch Bäumler-Hösl und ihr Kollege Matthias Bühring, die den KPMG-Bericht mitsamt Anlagen am 15. Mai von Wirecard erhielten und dann nach eigener Aussage gemeinsam sezierten, kamen zunächst zu einem anderen Schluss – sehr zum Erstaunen der Parlamentarier im Untersuchungsausschuss. Wenn es einem Team von 40 Prüfern und Forensikexperten von KPMG über Monate nicht gelinge, Umsätze zu belegen, liege doch sehr nahe, dass es diese schlicht nicht gebe, sagte der SPD-Abgeordnete Jens Zimmermann. Zudem hätten den Ermittlern im Frühjahr doch bereits viele Mosaiksteine vorgelegen, die in Summe ein klares Bild der Lage bei Wirecard gezeigt hätten – und zwar keine Steinchen, sondern große „Mosaikplatten“, wie Zimmermann sagte.
Dagegen verwies Bäumler-Hösl bei ihrer Befragung darauf, dass Wirecard den KPMG-Sonderprüfern tatsächlich 200 Millionen Transaktionsdaten aus dem Dezember 2019 vorgelegt habe. Erst im Laufe der Ermittlungen im Sommer habe ein Kronzeuge zugegeben, dass diese Daten in „mühevoller Kleinstarbeit“ gefälscht worden seien.
Zu den vielen Mosaiksteinen, die den deutschen Behörden in den Monaten vor dem Auffliegen der Bilanzmanipulationen vorlagen, zählen auch die Warnungen eines Londoner Hedgefonds. Dabei handelte es sich um Greenvale Capital, einen Fonds, dem schon vor Jahren Zweifel an den Geschäften bei Wirecard gekommen waren. Greenvale wettete daher mit Leerverkäufen auf fallende Kurse. In der Wirecard-Zentrale zählte der Fonds zu jenen Feinden, die man mithilfe wohlgesinnter Analysten ausforschte.
Bereits im September und November 2019 hatten Greenvale-Manager bei der deutschen Finanzaufsicht Bafin einen Verdacht der verbotenen Marktmanipulation durch Wirecard angezeigt. Dabei ging es in einem Fall um Aussagen zu ungeprüften Jahresabschlüssen der Konzerntochter in Dubai, über die angeblich der Großteil des wichtigen Geschäfts mit Dirttpartnern lief. Ein anderer Fall betraf Aussagen des Konzerns zu den Bilanzunregelmäßigkeiten der Tochterfirma in Singapur, die durch Enthüllungen der „Financial Times“ Anfang 2019 in Verruf gekommen war. Neben der Bafin wandten sich die Hedegfonds-Manager auch an die Münchner Staatsanwaltschaft.
Nach der Veröffentlichung des KPMG-Berichts Ende April 2020 schickte Greenvale dann über eine Frankfurter Kanzlei weitere Warnungen. Am 8. Mai adressierten die Anwälte ein Schreiben an die damalige Bafin-Exekutivdirektorin Elisabeth Roegele, in dem sie mehrere eklatante Widersprüche zwischen Feststellungen im KPMG-Bericht und beschwichtigenden Aussagen von Wirecard zu dem Bericht detailliert beschrieben. Der Konzern habe durch öffentliche Aussagen von führenden Konzernvertretern, eine Ad-hoc-Mitteilung und eine Zusammenfassung der „Kernaspekte des KPMG-Berichts“ auf der Konzernwebsite Anfang Mai „falsche oder irreführende Signale“ an den Markt gegeben, heißt es in dem Brief der Greenvale-Anwälte, der Capital und dem "Stern" vorliegt. Dadurch sei ein „weiterer Verdacht“ einer Marktmanipulation durch Wirecard-Verantwortliche gegeben. Man bitte daher darum, die Hinweise im laufenden Verfahren zu berücksichtigen.
Nur eine Woche später, am 15. Mai, folgte ein weiteres Schreiben, in dem die Kanzlei wegen neuer Auffälligkeiten bei Wirecard Alarm schlug – dieses Mal nicht nur bei Bafin-Exekutivdirektorin Roegele, sondern auch bei Oberstaatsanwältin Bäumler-Hösl. Man habe Bekanntmachungen von Wirecard entnommen, dass der Konzern seine Tochter in Dubai liquidiere, immerhin seine nach Jahresergebnis größte Tochtergesellschaft. Zudem werde auch die ebenfalls in Dubai ansässige Firma Al Alam abgewickelt – also der wichtigste jener Partner, die für Wirecard die Transaktionen mit Drittfirmen abwickelten.
Warnung vor möglicher Vertuschungsaktion
Es sei „sehr ungewöhnlich“, dass ein Unternehmen – „geschweige denn ein Dax-Unternehmen“ – seine mit Blick auf den Gewinn bedeutendste Tochtergesellschaft liquidiere und darüber nicht einmal per Ad-hoc-Mitteilung die Investoren informiere, schrieben die Greenvale-Anwälte an Roegele und Bäumler-Hösl. Angesichts der „im Raum stehenden Vorwürfe“ gegen Wirecard stehe zu befürchten, dass mit der Liquidation wichtige Unterlagen für laufende oder künftige Untersuchungen der Behörden nicht mehr zur Verfügung stehen könnten. Ihr Schreiben schlossen die Anwälte mit einer unverblümten Aufforderung: Man gehe davon aus, dass die deutschen Behörden sicherstellten, dass sie dennoch „uneingeschränkt Zugriff auf alle Unterlagen haben“.
Auf diese Warnungen der Greenvale-Anwälte beziehen sich auch Abgeordnete, die jetzt das späte Eingreifen von Bafin und Staatsanwaltschaft kritisieren. Die Schreiben seien „der letzte Rettungsanker“ für die zuständigen Behörden gewesen, sagte der FDP-Finanzexperte Florian Toncar. „Die Erzählung, man habe bis zuletzt keine Ahnung davon gehabt, dass die Treuhand-Milliarden nicht existieren, ist damit erschüttert.“
Auch die Darstellung der Staatsanwaltschaft im Ausschuss, es habe aufgrund fehlender zureichender Anhaltspunkte für Straftaten bei Wirecard nicht für echte Ermittlungshandlungen wie Hausdurchsuchungen gereicht, während man gegen Journalisten „fast schon auf Zuruf“ ermittelt hat, sei nicht plausibel, sagte Toncar. Wie sein SPD-Kollege Zimmermann verwies der Jurist, der auch als Rechtsanwalt in einer internationalen Großkanzlei tätig war, darauf, dass Betriebsprüfer schon 2019 Alarm geschlagen haben, dass bei Wirecards Drittpartner-Geschäfte etwas nicht stimme. „Die Staatsanwaltschaft hätte genügend Gründe gehabt einzugreifen“, sagte Toncar. Bei einer schnelleren Reaktion sei es vielleicht auch möglich gewesen, die Flucht des als Drahtzieher des Betrugs geltenden Vorstands Jan Marsalek zu verhindern. Die Grünen-Abgeordnete Lisa Paus stellte gar die Frage, ob den Staatsanwälten wegen möglicher Ermittlungsfehler nun bei der strafrechtlichen Aufarbeitung des Wirecard-Desasters „Interessenkonflikte“ drohten – was Bäumler-Bösl im Ausschuss entschieden zurückwies.
Auf Anfrage von Capital äußerte sich die Staatsanwaltschaft München I nicht zu den Warnungen von Greenvale. Man könne die Antworten von Oberstaatsanwältin Bäumler-Hösl gegenüber dem Untersuchungsausschuss „nicht auf Nachfragen der Presse erweitern“, teilte eine Sprecherin mit. Gegenüber den Abgeordneten hatte die Wirecard-Chefermittlerin am Freitag betont, sie habe mit einem der Greenvale-Manager 2019 im Austausch gestanden. Es sei auch geplant gewesen, dass dieser einmal zu einem Gespräch nach München komme – was dann aber nicht passierte. Vertreter des Hedgefonds wollten sich auf Anfrage nicht zu ihren Kontakten mit deutschen Behörden äußern.
Nach den Hinweisen der Greenvale-Anwälte auf mögliche Vertuschungsaktionen in Dubai vergingen noch Wochen, bis die Ermittlungen richtig auf Touren kamen. Am 5. Juni führte die Münchner Staatsanwaltschaft eine Razzia in der Wirecard-Zentrale durch. Dabei ging es auf Basis einer Strafanzeige der Bafin jedoch nur um mögliche Marktmanipulation durch irreführende Angaben in Ad-hoc-Mitteilungen des Konzerns während der laufenden Untersuchung von KPMG. Strafanzeige wegen des schwerer wiegenden Bilanzbetrugsverdachts erstattete die Bafin dagegen erst, nachdem Wirecards Abschlussprüfer EY am 18. Juni mitteilen ließ, dass die Milliarden auf Treuhandkonten auf den Philippinen vermutlich nicht existierten. Einen Tag später, am 19. Juni, konnte Marsalek ungehindert nach Belarus ausreisen. Seither ist er untergetaucht.
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