Bescheidenheit ist bekanntlich nicht die Kernkompetenz von Ökonomen. Man hat mitunter den Eindruck, praktisch jedes Problem erfordere ihre Einschätzung, ihre Analyse und ihren Rat. Leider stehen wir Wirtschaftsjournalisten ihnen darin oft in nichts nach.
So war es eine glückliche Fügung, dass die Eröffnung der wichtigsten Finanzmarkt-Veranstaltung von Capital, zu der wir einmal im Jahr nach Frankfurt einladen, am Donnerstag einem Historiker oblag: Andreas Rödder, prominenter Professor an der Uni Mainz für Neueste Geschichte und ein hochpolitischer Kopf, setzte gleichsam den Ton für einen Tag, an dem es – getreu seinem Titel „Vermögensaufbau-Gipfel“ – im weiteren Verlauf vor allem um Anlagestrategien und Anlageentscheidungen gehen sollte. Aber man kann in diesen Tagen nicht über die Zukunft der Märkte, von Aktien und Anleihen sprechen, ohne die dramatische Lage in Teilen der Welt in den Blick zu nehmen.
Das Thema des Historikers war unser Umgang mit Krisen, die Frage, warum sie uns immer wieder überraschen, welche Schlussfolgerungen wir daraus ziehen und dass wir, wenn wir ehrlich sind, noch nie wirklich schlauer aus ihnen hervorgegangen sind. Es war eine Lehrstunde der Bescheidenheit.
Sehnsucht nach dem alten Normal
Tatsächlich erleben wir seit einigen Jahren eine dramatische Verdichtung von Krisen. Wir hoffen stets darauf, dass sie sich irgendwann auflösen mögen, dass wir sie überwinden und wieder zum Leben, zu unseren Arbeiten und Aufgaben aus der Zeit vorher zurückkehren können. Wir sehnen uns nach dem alten Normal. So war es mit der Finanzkrise 2008, mit der Eurokrise 2012ff, mit der Flüchtlingskrise 2015, mit der Pandemie, so ist es immer noch mit dem Krieg in der Ukraine. Und so hoffen wir auch jetzt darauf, dass Israelis und Palästinenser doch noch einen Weg zum Frieden finden.
Doch wenn wir nüchtern auf die Dinge schauen, dann gibt es dieses alte Normal nur in der Rückschau. Denn Krisen sind eigentlich immer, vielleicht nicht so nah, so dramatisch und so geballt wie in den letzten drei, vier Jahren hier bei uns in Europa – aber in ihrer jeweiligen Zeit sind die Krisen immer groß und einschneidend.
Neben der Hoffnung steht noch eine zweite Emotion, die uns in Krisen oft bewegt und unser ganzes Denken einnimmt: die Sorge oder gar Furcht, dass es ab jetzt immer so weitergeht. Dass wir nie mehr unser altes Leben zurückerlangen, dass wir ewig mit Maske herumlaufen müssen; dass Gasnotstand und Energiekrise auf lange Zeit unseren Alltag und unsere Wirtschaft lähmen werden. Rödder sagt: „Wir schreiben die Gegenwart mit unseren jüngsten Erfahrungen einfach fort.“ Der Glaube an die Segnungen des aufkommenden Freihandels im 19. Jahrhundert, der Friede und Wohlstand bringe; das berühmte Ende der Geschichte 1989; die Unumkehrbarkeit der Globalisierung seit den 90er-Jahren; der Glaube an Wandel durch Handel – alles war in seiner jeweiligen Zeit absolut gewiss.
Mit feiner Ironie erzählt der Historiker die Geschichte der Menschheit als eine Geschichte der Fehlprognosen.
Lernen wir nie dazu?
Hoffnung und Furcht bremsen die kühle Analyse aus: Denn in Wahrheit lösen sich die wenigsten Krisen einfach auf. Sie treten manchmal in den Hintergrund, sie entspannen sich vielleicht, wir beachten sie nicht mehr. Aber meistens bleiben sie da, sie überlagern sich oder bilden, wie es eine Teilnehmerin ausdrückte, einen Bodensatz, auf dem wir einfach weitermachen. Und dann sind wir überrascht oder entsetzt, wenn sie erneut aufbrechen.
Zugleich aber nehmen wir häufig nicht einmal wahr, dass es meistens anders kommt als gedacht: Wer hätte im ersten Lockdown der Pandemie vor bald vier Jahren gedacht, dass wir einmal so wie heute auf die Zeit damals werden blicken können? Natürlich ist unser Leben heute ein anderes als vorher, die Pandemie hat die Welt verändert – das alte Normal gibt es nicht mehr. Aber die meisten Befürchtungen aus dem Jahr 2020 – dieses: „Wir werden nie mehr …“ – haben sich doch aufgelöst. Nur leider lassen sich die wenigsten Krisen mit einer Spritze wegimpfen.
Es ist ein Muster, das bei Krisen immer wieder zu beobachten ist: Erst sehen wir sie nicht kommen, dann halten wir sie für unabänderlich. Und diese Einschätzung vertreten wir mit einem Absolutheitsanspruch, der andere Möglichkeiten kaum zulässt. Gibt es gar keinen Ausweg aus unserer Ahnungslosigkeit, lernen wir nie dazu, wenn wir versuchen, über die Zukunft nachzudenken?
Laut Rödder gibt es zwei große Trends, vielleicht sogar Kausalitäten, die sich zu beachten lohnen: der technische Fortschritt etwa als Triebfeder für Wandel und Veränderung. Auch wenn wir die Folgen einer Innovation nie vollständig abschätzen können, so lohnt es sich eben doch, sie zu durchdenken und fortlaufend zu beobachten. Eine zweite Triebfeder sind die Veränderungen der politischen Kultur, des gesellschaftlichen Rahmens, in dem wir leben und wirtschaften: Dass die deutschen Autohersteller momentan in der größten Transformation seit Erfindung des Automobils stecken, ist nicht nur eine Folge des technischen Fortschritts, sondern auch der ökologischen Notwendigkeiten und der veränderten politischen Akzeptanz. Es sind Trends, die manchmal klein und langsam anfangen und doch eine große Wirkmacht entwickeln.
Drei Erkenntnisse aus der Geschichte der Krisen
Und dann gibt es eben noch Dinge, die einfach passieren, die schiefgehen, uns erschrecken und manchmal in Panik versetzen – Fukushima zum Beispiel.
Rödder zufolge gibt es drei Erkenntnisse aus der Geschichte der Krisen und dem menschlichen Umgang mit ihnen:
- Die Zukunft ist doppelt anders – anders als die Gegenwart und anders als wir uns die Zukunft ausmalen.
- Auch wenn es uns offenkundig schwerfällt, so müssen wir doch in Möglichkeiten und Szenarien denken, wenn wir uns die Zukunft vorstellen. Wir müssen versuchen, das Unerwartete und Undenkbare zu denken. Die Zukunft steht nicht fest, sie ist offen – in jede Richtung.
- Es gibt keine einfachen Lösungen – ja, vielleicht gibt es eben gar keine Lösungen. Auch wenn wir es uns anders wünschen, unsere hochkomplexe Welt erfordert eher Strategien und das Denken in Möglichkeiten.
Es war keine leichte Kost, die der Historiker den gut 200 Zuhörerinnen und Zuhörern an diesem Donnerstagmorgen servierte. Die Ereignisse in der Welt, das war in Frankfurt zu spüren, lassen niemanden kalt – auch wenn die Märkte in dieser Woche auf das Grauen in Israel und den neuen alten Krieg im Nahen Osten kühl und ungerührt reagiert haben.
Es kann auch besser kommen als man denkt
Rödders Botschaft war ein Appell an die Vernunft. Statt uns von den Ereignissen treiben und gefangen nehmen zu lassen, sollten wir den Mut haben, unseren Verstand zu benutzen: Uns nicht flüchten in Eskapismus, Echokammern und Ideologien, sondern uns der Komplexität dieser Welt stellen.
In seinem Vortrag steckten zudem zwei Erkenntnisse, die Anlass zu Optimismus geben: Auch wenn uns Krisen belasten und herausfordern, es gibt per se keine Obergrenze für Probleme, die eine Gesellschaft verarbeiten kann. Natürlich lösen sie gesellschaftliche Konflikte aus, aber im Grunde sollten durch sie auch immer neue Ansätze entstehen, diese einzudämmen oder zu meistern. Wir wachsen mit Krisen. Und, das war die zweite gute Einsicht aus seinem Vortrag: Wenn immer alles möglich ist, dann gilt das eben nicht nur für eine Entwicklung zum Schlechten, sondern auch zum Guten. Es kann auch besser kommen als man denkt – oft haben wir das sogar selbst in der Hand.