Herr Sinn, nicht nur hier auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos wird viel orakelt und gerätselt über eine mögliche Rezession. Was hören Sie eigentlich von Ihren Kunden? Sie sind eine Art ein Seismograf…
WALTER SINN: Aus meinen Gesprächen mit Unternehmen höre ich immer wieder das, was die Mehrheit der Ökonomen erwartet: Viele stellen sich auf eine Rezession ein, die jedoch milder wird als befürchtet. Ich erwarte, dass das Wachstum für Deutschland sich knapp unter der Nulllinie abspielen wird. Vielleicht gibt es auch eine positive Überraschung! Aber die Frage nach dem Wachstum 2023 halte ich nicht für alles entscheidend. Wichtiger sind die strukturellen Themen, die in Krisen oft übertönt werden: die Transformation der Geschäftsmodelle hin zur Klimaneutralität, die Zukunft Europas, die Geopolitik, die das gesamte Jahrzehnt bestimmen wird. Eine Rezession geht vorbei, diese Trends bleiben.
Gibt es also Grund für Optimismus?
Ich habe in Davos eine eher sorgenvolle und depressive Stimmung erwartet. Das war aber kaum der Fall, eher das Gegenteil! Ich nehme bei vielen Unternehmenslenkern, Denkerinnen, auch Politikern einen vorsichtig optimistischen und auch kämpferischen Spirit war. Sie sagen: Ja, es gibt viele Krisen und keine einfachen Antworten. Aber auf der anderen Seite: jetzt erst recht! Im Schatten der Krise und der Fragmentierung der Welt entstehen neue Formen der intelligenten Zusammenarbeit. Viele Unternehmen sind im Beschleunigungsmodus.
Große Krisen lenken immer wieder ab – gelingt es den CEOs, den Fokus auf die langfristigen Trends zu behalten?
Alle Unternehmen sind immer wieder im Taskforce-Modus für die kurzfristigen Krisen. Und das verschlingt viel Aufmerksamkeit. Aber die richtig guten Managerinnen und Manager verlieren nicht die Transformationsthemen aus dem Blick.
Welches halten Sie denn für das Wichtigste?
Das ist und bleibt der Klimawandel und der Umbau der Geschäftsmodelle. Das hat die Mehrheit längst verstanden und die Arbeit daran lässt nicht nach. Wir haben bei Bain dazu im Rahmen der UN-Klimakonferenz COP26 eine Studie erstellt, und das Ergebnis war, dass 90 Prozent der befragten CEOs in Deutschland Nachhaltigkeit als das Thema auf ihrer Agenda haben. Viele Unternehmen stehen noch ganz am Anfang, aber es wird sehr ernsthaft betrieben.
Was ist an diesem berühmten Anfang einer Transformation besonders wichtig?
Transparenz zur Ausgangslage und die richtigen Ziele setzen. Es geht sehr viel um Daten, die komplette Datenbasis für alle direkten Emissionen von Scope 1 und 2 und später auch um die indirekten, die unter Scope 3 zusammengefasst werden – und etwa die Nutzung der Produkte beinhalten. Viele Unternehmen müssen erst einmal verstehen, was entlang ihrer Wertschöpfungskette passiert. Das Thema „Carbon Management“ wird zentral.
Die große Frage ist: Machen die CEOs diesen Umbau als Getriebene, aus Überzeugung oder als eine Art Marketing – um den Ruf des Unternehmens zu wahren?
Wie immer gibt es dadie ganze Bandbreite. Aber ich erlebe viele Vorstände, bei denen die Überzeugung da ist und die die Notwendigkeit sehen. Das hat auch unsere CEO-Studie klar gezeigt.
Auch weil sie wissen, dass sich ihr Geschäftsmodell ändert – oder schlimmstenfalls nicht mehr funktioniert, wenn es sehr CO2-intensiv ist.
Ich sehe zwei Gründe. Zum einen gibt es auch bei CEOs eine persönliche Komponente: Jeder will mithelfen, dass die Erde überlebt. Zweitens sehen viele Unternehmen in der Transformation auch eine Chance. Wie bei der Digitalisierung gibt es nun den Moment, bei dem sich die Spreu vom Weizen trennt. Es gibt langsame Unternehmen, die zögern – andere ergreifen die Chance. Und wir müssen die zukünftigen Geschäftsmodelle und neuen Technologien schnell entwickeln! Das ist im Übrigen auch ein Grund, warum ich optimistisch bin für Deutschland und deutsche Unternehmen: Bei Innovationen und neuen Technologien waren wir schon immer besonders stark. Wie wir Deutschland insgesamt beschleunigen, also gerade auch in der Politik und Verwaltung, ist übrigens ein Riesenthema. Darüber wird unter Wirtschaftsführerinnen und -führern immer wieder gesprochen.
Die Frage ist nur. Wie gelingt uns das? Immerhin haben wir es bei den LNG-Terminals jetzt einmal gezeigt, dass es geht.
Das ist wirklich das Paradebeispiel. Aber wir müssen es nun replizieren. Bei der digitalen Verwaltung gab es zuletzt eher ernüchternde Ergebnisse. Da ist Ende des Jahres schmählich auf den Tisch gekommen, dass von den angestrebten 575 Leistungen, die schon online sein sollten, nur rund sechs Prozent bereits flächendeckend in Deutschland laufen. Wir stecken in vielen Bereichen ganz ordentlich im Morast fest. Nur auf Druck geht es dann manchmal plötzlich.
Kommen wir nochmal auf Europa: Seit einigen Wochen sorgt der „Inflation Reduction Act“ (IRA) für Aufregung – die Amerikaner stellen Hunderte Milliarden Euro bereit, für eine grüne Industriepolitik. Allerdings soll in den USA produziert werden.
Das ist aus Sicht der USA der richtige Schritt. Sie machen Europa vor, wie es geht.
Und sollen wir mit einer neuen europäischen Industriepolitik antworten?
Das müssen wir. Zumindest wird die grüne Transformation ein wichtiges Element der Industriepolitik. Das bedeutet nicht, dass wir wieder neue Regeln und Vorschriften erfinden. Ich bin ein überzeugter Marktwirtschaftler, und ich glaube an Unternehmertum. Aber die Akzentsetzung des IRA ist nicht überbordend. Er ist vergleichsweise einfach: Er unterstützt und incentiviert entscheidende Investitionen. Das finde ich eine gute Industriepolitik.
Also keine protektionistische Industriepolitik, sondern eine, die dazu ermuntert zu investieren?
Ja, aber auch eine Politik, die Regeln im geopolitischen Spiel erkennt und für Deutschland und Europa etwa den Zugang zu Rohstoffen sichert. Werte sind wichtig, aber Interessen und Unabhängigkeit auch.
Das Motto in Davos auf dem Weltwirtschaftsforum aber war: Diese Welt ist fragmentiert. Wie passt das zusammen? Und wie müssen sich Unternehmen darauf einstellen?
Ich glaube nicht an das Ende der Globalisierung im Sinne der globalen Zusammenarbeit. Die wird es weiterhin geben – und geben müssen. Die Spielregeln werden nur neu definiert. Es wird in Blöcken gedacht, stärker in eigenen Interessen. Aber die Zusammenarbeit hört nicht auf. Es wäre auch ein Fehler, gerade beim Klimaschutz braucht es doch offensichtlich globale Lösungen.
Ein Teil der Fragmentierung betrifft China – da wollen sich Unternehmen zurückziehen, Produktion in anderen Ländern wie Vietnam oder Indien aufbauen. Was denken Sie darüber?
Es wärezu kurz gedacht, sich vorschnell aus China zu verabschieden. In manchen Branchen wie der Automobilindustrie machen Unternehmen bis zu 40 Prozent des Umsatzes in China! Natürlich stellt sich ein Unternehmen vor der nächsten Milliardeninvestition die Frage nach dem Standort. Da ist es wichtig zu erkennen, dass Asien nicht nur China ist. Man muss den ganzen südostasiatischen Raum, insbesondere auch Indien, in den Blick nehmen. Das wird vielleicht auch zur Wiederentdeckung Japans führen. Aber ich würde vor Schnellschüssen warnen.
Die letzten Jahre waren ein Stresstest für viele Unternehmen, wir haben zwei Fähigkeiten erlebt: Anpassungsfähigkeit und Widerstandsfähigkeit. Hat Sie das überrascht?
Mich hat beeindruckt, wie schnell in vielen Unternehmen in der Coronakrise Entscheidungen getroffen werden konnten. Das Thema Resilienz wird eher noch zunehmen – das beginnt bei der Energieversorgung und erstreckt sich bis hin zu den Lieferketten. Da unterstützen wir viele global agierende Unternehmen, sich robuster aufzustellen. Es geht nicht mehr um maximale Effizienz, sondern es werden bewusst Puffer eingebaut. Ich nenne das „Smart Resilience“. Widerstandsfähigkeit geht auch mal zulasten von Rentabilität – das aber wird in Kauf genommen.
Welches Unternehmen hat das besonders gut hinbekommen?
Von den internationalen Autobauern ist Toyota mit am besten durch die Engpässe gekommen. Ausgerechnet Toyota, der Erfinder und Weltmeister der „Lean-Production“! Es gibt neben der Widerstandsfähigkeit ein weiteres wichtiges Thema: die Nachvollziehbarkeit, auf Englisch „traceability“. Jedes Unternehmen muss noch besser verstehen, was entlang der Wertschöpfungskette passiert. Wo kommen etwa die Vorprodukte überall her? Und jetzt auch: Mit welchem CO2-Fußabdruck? Da braucht es mehr Transparenz, was für globale Unternehmen oft kaum zu managen ist.
Kommen wir zum Schluss zu Deutschland: Da gab es ja viel Gerede über unser Geschäftsmodell und eine mögliche De-Industrialisierung. Wie ist Ihr Blick drauf?
Wir stehen vor einer fundamentalen Anpassung der deutschen Industrie. De-Industrialisierung aber ist ein sehr starkes Wort, das wird in der Form nicht passieren. Aber es wird auch nicht alles gleichbleiben. Und unter der Überschrift „You'll never walk alone“ wird auch nicht jedes Unternehmen jeden Arbeitsplatz retten können. Bei langfristig höheren Energiepreisen werden in der Industrieproduktion beispielsweise nicht alle Hochöfen zukünftig in Deutschland laufen können – und das gilt auch für bestimmte Basischemieprodukte. Aber die deutsche Industrie wird nicht untergehen, im Gegenteil. Deutschland muss im Wettbewerb um die Industrie 4.0 seine Stärken ausspielen, eine intelligente Produktion erhalten und dort einen Unterschied machen. So sieht die Welt auch Deutschland.