Im Journalismus gibt es eine goldene Regel, sie lautet: Du solltest Dich immer noch steigern können. Im Augenblick des Schreckens hat man in unserer Branche gern und schnell einen Superlativ zur Hand. Doch meist stellt man mit einigem Abstand erleichtert fest: Ganz so schnell ging die Welt doch nicht unter. Was leider nicht ausschließt, dass bald darauf das nächste Unglück um die Ecke biegt.
Nach dieser aufregenden und atemlosen ersten November-Woche, in der die USA einen neuen alten Präsidenten wählten und in Berlin nach nur drei Jahren im Amt die Ampelkoalition zerbrach, bedeutet das: Niemand kann heute sagen, welche Entwicklung die Welt in den kommenden Monaten und Jahren nehmen wird. Aber mit einiger Wahrscheinlichkeit werden Historiker einmal auf diesen Spätherbst 2024 zurückblicken und urteilen: Damals endete eine Epoche, die weite Teile des Globus für immerhin 80 Jahre ziemlich stabil gehalten hat.
Während viele Europäer die erste Wahl Trumps 2016 noch für einen Unfall hielten, müssen wir spätestens jetzt anerkennen: Trump war keine komische Laune der Geschichte, sondern er war und ist der Vorbote einer großen, globalen Entwicklung, die wir inzwischen in fast allen westlichen Demokratien beobachten: Im politischen Diskurs zählen Fakten und Vernunft immer weniger, alte Bündnisse, geteilte Werte, Loyalitäten und Regeln verlieren an Bedeutung. Und an ihre Stelle treten Opportunitäten und die schiere Macht des Stärkeren.
Trump und die Auswirkungen auf Deutschland
Wir wissen noch nicht, was ein US-Präsident Donald Trump nach seinem Amtsantritt Mitte Januar anstellen wird. Aber nach allem, was er im Wahlkampf angekündigt und angedeutet hat, wird es mindestens turbulent werden – und für Europa und speziell Deutschland auch heikel. Zwischen dem Erzrivalen China und dem einstigen Verbündeten Europa macht Trump keinen großen Unterschied mehr – in seinen Augen haben wir Europäer auf Kosten der USA blendende Geschäfte gemacht und uns gleichzeitig unter dem militärischen Schutzschild ausgeruht. „They ate our lunch“, sagt Trump mit Blick auf Europa und die Deutschen, was etwas freier übersetzt so viel heißt wie: „Sie haben uns ausgenommen.“ Nun bekommen wir die Rechnung.
Trump will Zölle einführen auf alle aus dem Ausland importierten Waren und Dienstleistungen, das wird den deutschen Export erheblich schwächen. Im vergangenen Jahr waren die USA für Deutschland der wichtigste Handelspartner, deutsche Unternehmen verkauften dort Waren im Wert von fast 160 Mrd. Euro. Der Ökonom Moritz Kraemer, Chefvolkswirt der Landesbank LBBW und ein guter Kenner der weltwirtschaftlichen Verflechtungen, schätzt, dass die deutsche Wirtschaft im kommenden Jahr um bis zu zwei Prozent schrumpfen könnte, wenn Trump seine Drohungen wahrmacht. Nach dem Auf und Ab der Pandemie, dem Schock des Ukrainekriegs, der Inflation und bald drei Jahren wirtschaftlicher Stagnation wäre das ein Fiasko.
Hinzu kommt, dass Trump die Ukraine-Hilfen der scheidenden US-Regierung überprüfen wird. Ob er sie einstellt, ist offen. Aber ziemlich sicher werden Deutschland und die Europäer bald vor der Frage stehen, ob sie bereit und in der Lage sind, Lücken zu füllen, die die Amerikaner in der Ukraine hinterlassen, finanziell und militärisch.
Der frühere SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel, heute Chef der deutsch-amerikanischen Atlantikbrücke, erwartet, allein Deutschland werde ab dem kommenden Jahr bis zu 100 Mrd. Euro für Rüstung, die NATO und die Bundeswehr ausgeben müssen. Das wären noch mal rund 30 Mrd. Euro mehr als bisher vorgesehen. Und mit dieser Zahl bewegt sich Gabriel eher am unteren Rand der Schätzungen, die gerade in Berlin herumgereicht werden. Woher solche Summen kommen sollen, ist völlig unklar. Aber einfach an anderer Stelle im Bundeshaushalt einsparen lassen sich 30 Milliarden nicht. Zumindest dann nicht, wenn man keine Aufstände provozieren will – erinnert sei an dieser Stelle nur an die Proteste der Landwirte zum vergangenen Jahreswechsel.
Eine Koalition als eine Art Dauer-Unfall
Es hatte natürlich eine ganz eigene Ironie, dass die Ampelkoalition in Berlin ausgerechnet am Tag von Trumps Triumph zerbrach. Es war jener Wahlausgang, von dem es immer hieß, dass auf ihn die Bundesregierung am allerwenigsten vorbereitet sei, er die eh schon angeschlagene Koalition aber wieder zusammenschweißen könnte. Doch dieses Kalkül unterschätzte die Lust an der Zerstörung, die offensichtlich schon von einigen Beteiligten Besitz ergriffen hatte.
Auch rächte sich hier wahrscheinlich die bei Politikern beliebte alte Western-Devise ‚we cross the bridge when we get there‘ – ‚wir kümmern uns um das Problem, wenn wir die anderen hinter uns haben‘. Für die Ampelkoalition war es dennoch ein konsequentes Ende: Wenn SPD, FDP und Grüne eines gemeinsam beherrschten, dann war es das Aufschieben und kunstvolle Verschleiern von ungelösten Problemen. Auch dann, wenn für alle Umstehenden offensichtlich war, dass das nicht lange gutgehen würde. Es machte aus dieser Koalition eine Art Dauer-Unfall, von dem man nicht die Augen abwenden kann.
Das Zusammentreffen von Trumps Triumph und dem Machtvakuum in Berlin ist auch deshalb so bitter, weil wir in Deutschland – zumindest auf Bundesebene – noch immer weit von US-amerikanischen Verhältnissen entfernt sind. Eine ganz überwiegende Mehrheit von gut 70 Prozent der Wählerinnen und Wähler verlangt nach wie eine konstruktive Politik der Mitte (mal etwas linker, mal etwas konservativer). Wenn man diese Wählergruppe trotz aller programmatischen und ideologischen Differenzen und aller herzlichen Abneigung doch einmal zusammenfasst, dann lautet die Stimmung hier immer noch: Rauft Euch zusammen, macht Kompromisse und kriegt die Dinge endlich wieder ans Laufen.
Die Frage, wer von den drei wichtigsten Beteiligten aus diesem politischen Desaster nun am wenigsten beschädigt hervorgeht und wer wohl noch welche Chancen bei der anstehenden Neuwahl hat, ist natürlich berechtigt – immerhin wollen Scholz, Habeck und Lindner ja noch mal antreten. Aber sie erinnert auch ein wenig an die berühmten drei Affen, von denen jeder auf seine Weise immer wieder zum Unglück beiträgt.
Scholz beweist Machtinstinkt
Auf jeden Fall lässt sich festhalten: Scholz hat mit dem Rauswurf Lindners und seinem sehr gut vorbereiteten Kamera-Auftritt keine zwölf Stunden nach dem Durchmarsch Trumps Machtinstinkt bewiesen; und eine Dickfelligkeit, die man ansonsten nur selten sieht in der deutschen Politik. Nach seinem doch einigermaßen überraschenden Erfolg 2021 hat es Scholz nun als Amtsinhaber geschafft, auch in seinen zweiten Kanzlerwahlkampf irgendwie als Herausforderer und Underdog zu starten.
Die spannende Frage lautet daher: Wie wird CDU-Chef Friedrich Merz in den kommenden Wochen und Monaten auf Scholz’ Taktieren und Winkelzüge reagieren? Scholz’ Ankündigung, nun im Wochentakt in der Koalition vereinbarte und im Grundsatz unstrittige Gesetzentwürfe in den Bundestag einbringen zu wollen, ist nämlich genau dies: der Versuch, Merz aus der Reserve zu locken. In diesem Spiel die Ruhe zu bewahren, immer betont an der Sache zu arbeiten und sich nicht provozieren zu lassen, wird nun Merz’ größte Herausforderung sein.
Scholz setzt darauf, dass Merz genau dies nicht kann. Kann der CDU-Chef es doch, kann er ein paar Wochen mehr bis zur Wahl auch noch getrost abwarten.