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Kommentar Therapiefall Frankreich

Frankreich droht nach dem Sieg der rechtsradikalen Front National die Angststarre. Dabei braucht das Land Reformen. Von Leo Klimm
Marine Le Pen und ihr Front National sind die großen Sieger in Frankreich
Marine Le Pen und ihr Front National sind die großen Sieger in Frankreich
© Getty Images

Ach, Frankreich! Nichts bräuchte das Land dringender als eine Selbstbefreiung aus der wirtschaftlichen und politisch-ideologischen Fixierung auf den Referenzrahmen der Nation. Die Unfähigkeit, sich im Europa des 21. Jahrhunderts zurechtzufinden, sich einzupassen in die globalisierte Welt – sie lähmt ganz Frankreich. Dabei sehnt es sich nach dem Ende dieser lähmenden Starre. Die Franzosen schreien nach Veränderung. Es ist ihre eigentliche Botschaft bei dieser Europawahl.

Trotzdem haben sie, genau wie ihr sozialistischer Präsident François Hollande, Angst vor der eigenen Courage. Sie tun das Gegenteil von dem, was sie jetzt brauchen. Das Land ist ein Fall für die Psychotherapie. Es igelt sich ein, fürchtet die Zukunft – und macht die Front National bei der Europawahl zu seiner stärksten politischen Kraft. Ein Drittel der französischen Abgeordneten im neuen Europaparlament wird eine rechtsradikale Partei entsenden, die behauptet, ihr Land in einen vorglobalisierten Zustand der totalen Souveränität zurückzuversetzen.

Für Deutschland und alle übrigen EU-Partner bedeutet dieses schauerliche Wahlergebnis: Bloß nicht zurückweichen. Nur nicht dem Druck nachgeben, der sowohl durch die Wahl selbst als auch von Hollande nun ausgeübt werden wird, um das zweitgrößte Land Europas aus der Pflicht zu Strukturreformen zu entlassen. Frankreich zur Modernisierung von Staat und Wirtschaft zu bewegen, ist nicht nur im Interesse der Solidarunion Europa und zum Schutz der gemeinsamen Währung. Es ist Hilfe zur Selbsthilfe. Hilfe, um die Angststarre zu überwinden.

Quittung für unterlassene Reformen

Anders als einige in Hollandes Regierung denken, ist der Durchbruch der Front National (FN) weniger eine Abwehrreaktion der Wähler auf ein vermeintliches Spardiktat aus Brüssel oder auf eine dogmatische EU-Wettbewerbspolitik, die angeblich Arbeitslosigkeit in Frankreich produziert. Es ist keine Quittung für eine zu harte Politik, die unter dem Zwang deutscher Dominanz in Frankreich geführt worden wäre. Das Gegenteil stimmt: Der FN-Sieg ist die Quittung für unterlassene Reformen. Die historische Niederlage der Sozialisten wäre nicht ganz so jämmerlich, würde Hollande sie wenigstens für mutige Politik kassieren.

Die deutliche Unterstützung, die sein sozialdemokratischer Kollege Matteo Renzi in Italien für einen Modernisierungskurs bei der Europawahl erhalten hat, spricht für sich: In einem Land, das von der Wirtschaftskrise viel stärker betroffen ist als Frankreich, unterstützen die Wähler die Veränderung. In Frankreich hingegen stand ein politisches Angebot zum Aufbruch überhaupt nicht zur Wahl: Abgesehen von den Zentristen, die mit zehn Prozent einen Achtungserfolg erreichen, gibt es hier keine nennenswerte Partei mehr, die vorbehaltlos für einen europäisch orientierten Reformkurs eintritt. Auch das spricht für sich.

Beim Treffen der EU-Staats- und Regierungschefs in dieser Woche dürfte Hollande wieder einmal eine „Neuorientierung“ Europas verlangen. Er hat das nach seiner Wahl zum Präsidenten vor zwei Jahren getan – jetzt wird er dasselbe nach seiner schlimmsten Niederlage tun. Er könnte zur Konjunkturbelebung massive öffentliche Infrastrukturausgaben in Deutschland verlangen. Womöglich unternimmt er auch einen neuen Versuch, Sparvorgaben an Frankreich aufzuweichen. Vor allem dürfte er eine Schwächung des Euro durch die EZB fordern. Und bei alledem das starke Abschneiden der FN als Druckmittel einsetzen: Die EU-Partner, so das Kalkül im Elysée, können seine Anliegen angesichts einer so massiven Ablehnung Europas im Kernland Frankreich nicht ignorieren.

Paris drückt sich vor dem Sparen

Zweifellos müssen sich jene EU-Staaten mit finanziellem Handlungsspielraum – vor allem Deutschland – die Frage stellen, ob sie konjunkturpolitisch Hilfe leisten können, um Reformen in Frankreich und anderswo zu stützen. Aber sie dürfen auf keinen Fall die perfide Logik akzeptieren, Europa sei schuld an der Wirtschafts-, Sozial- und Sinnkrise Frankreichs – und damit am Aufstieg des FN. Dafür hat die abgewirtschaftete französische Polit-Elite aus Konservativen und Sozialisten schon allein gesorgt. Denn auch die bürgerliche UMP ist am Sonntag abgestraft worden.

Angela Merkel, Matteo Renzi, der Spanier Mariano Rajoy und die anderen Europäer müssen Hollande also fragen, welche finanzpolitische „Austerität“ die Franzosen eigentlich beklagen. Wirklich gespart – im Sinne einer absoluten Reduzierung der Staatsausgaben – wird nicht in Paris. Sie müssen ihn auch fragen, ob er nach zwei vergeudeten Jahren und vielen Ankündigungen ernsthaft anfängt mit Strukturreformen, damit das dynamische Potenzial des Landes freigesetzt wird. Das, was Hollande am Arbeitsmarkt und bei der Rente angefangen hat, ist zu schwach, um etwas zu bewirken. Immerhin sollen demnächst deutliche Entlastungen bei Steuern und Abgaben für Bürger und Unternehmen kommen. Die Frage ist, ob sie durch Ausgabenkürzungen oder über Schulden finanziert werden. Wie beim konservativen Vorgänger Nicolas Sarkozy verraten alle bisherigen Reformansätze, dass die Probleme zwar erkannt werden – dass aber der Mut fehlt, sie anzugehen. Es ist der Versuch, nur gerade so viel zu verändern, wie unvermeidlich ist.

Die FN verändert die Machtarithmetik in Frankreich

Anstatt sich selbst zu verändern, sich anpassen zu müssen, wäre es den Franzosen viel lieber, Europa würde sich nach ihnen richten. Weil das aber schon seit Längerem nicht mehr so läuft in Europa, wächst die EU-Ablehnung im Land. Europhobie ist keineswegs ein Alleinstellungsmerkmal des Front National. Auch Konservative und Sozialisten sind seit Langem Europa gegenüber gespalten, reden der Euroskepsis das Wort statt sie zu bekämpfen.

Die Gefahr, die vom Erfolg der Rechtsradikalen in Frankreich ausgeht, sind nicht die 24 FN-Abgeordneten im Europaparlament. Sie ändern nichts an den Machtverhältnissen auf der europäischen Ebene. Und sie sind auch nicht vergleichbar mit deutschen Neonazis. Sie treten heute vor allem als biedere und damit wählbare Patrioten auf.

Gefährlich ist die FN viel mehr wegen des enormen Bedeutungszuwachses auf nationaler Ebene. Die Partei droht die innenpolitischen Gewichte so zu verschieben, dass Frankreich in Lähmung verharrt und reformpolitisch vollends verzagt. Um das zu vermeiden, braucht das Land einen politischen und wirtschaftlichen Entwicklungssprung. Europa muss dabei helfen.

Weitere Kommentare zur Europawahl: Ines Zöttl Hurra, wir leben noch! und Christian Schütte Ende von Schwarz-Gelb

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