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Kolumne Hurra, wir leben noch!

Die Ergebnisse der Europawahl könnten zum Ausgangspunkt für ein europäisches Revival werden
Ines Zöttl
Ines Zöttl schreibt an dieser Stelle über internationale Wirtschafts- und Politikthemen
© Trevor Good

Fast zweieinhalb Millionen Klicks. Die „Wutrede“ des SPD-Außenministers Frank-Walter Steinmeier auf einer Kundgebung zur Europawahl ist auf Youtube vergangene Woche binnen kürzester Zeit zum Hit geworden. Acht Millionen Stimmen hat die Partei ein paar Tage später bei der Wahl geholt, mehr als die meisten Beobachter erwartet hatten.

Vielleicht hat Steinmeiers Ausbruch den einen oder anderen Wähler in letzter Minute überzeugt. Denn in der Wutrede steckte mehr als Wut. Sie war eine Liebeserklärung für Europa. „Europa, das ist die Lehre von Zeiten, in denen sich Menschen nicht zugehört haben, in denen man aufeinander geschossen hat“, brüllte der Außenminister den krakeelenden Störern zu. Und: „Hätten wir auf Leute wie die da hinten gehört, wäre Europa heute kaputt.“

Anmerkung der Redaktion: Leider ist das Video nicht mehr verfügbar.

Wer sich das Video ansieht, kann nicht anders als beeindruckt sein. Hier liefert ein Politiker das, was sich so viele Wähler wünschen: Authentizität. Leidenschaft. Steinmeiers Auftritt hat ein Element des Nervenzusammenbruchs, man merkt ihm an, wie sehr ihn die Ukraine-Krise mitnimmt. Aber vor allem merkt man ihm an, dass er für die Sache brennt.

Und genau das hat Europa gefehlt.

Der gesamte Europawahlkampf war so, dass die erste Überraschung ist, dass überhaupt jemand zur Wahl gegangen ist. Und die zweite, dass die Europa stützenden Parteien so gut abgeschnitten haben. In Brüssel hat man Grund zum Jubeln: Hurra, wir leben noch!

Chance zur Rettung der Gemeinschaft

Ja, die Rechtspopulisten haben in Ländern wie Frankreich und Dänemark dramatisch hinzugewonnen. Aber sie verdanken das weniger ihrer eigenen Stärke als der Schwäche der anderen. Diese Wahl wäre ein guter Zeitpunkt gewesen, um kraftvoll für die „europäische Idee“ zu werben, statt mit programmatischen Scheinunterschieden und inhaltslosen Phrasen aufzutreten.

Die Ukraine-Krise hat mit einem Windstoß den Staub von dem Mottenkisten-Argument geblasen, Europa sei eine Frage von Krieg und Frieden. Ein stärkeres Argument für die Sache als Russlands Neoimperialismus gibt es kaum. Und auch wirtschaftlich steht die EU vom Krankenbett auf. Die Euro-Krise hat sie überlebt. Die Nachrichten vom Aufschwung verdrängen langsam die Bilder der Limousinen, die zum x-ten Krisengipfel in Brüssel vorfahren. Zumal die Strahlkraft der Schwellenländer merklich nachgelassen hat.

Das heißt nicht, dass die EU keine Probleme oder Defizite hätte. Von beiden hat sie reichlich. Aber das Wahlergebnis ist eine Chance, die Gemeinschaft zu retten. Dazu gehört, sich darauf zu besinnen, was Brüssel will und kann und soll und darf: Subsidiarität, von der so viel die Rede ist. Dazu gehört aber auch, eine europäische Erzählung zu entwickeln – so wie es Steinmeier im Kleinen vorgemacht hat.

proeuropäisches Wischi-Waschi

Vielen EU-Bürgern geht es wirtschaftlich noch immer dreckig und sie haben, wie die Portugiesen und Iren, ihre Regierungen dafür abgestraft. Im Umkehrschluss heißt das aber, dass der Aufstieg der Rechten dort kein strukturelles Phänomen ist, sondern Folge einer Protestwahl. Bei der Europawahl dürfte der Protest vielen Bürgern besonders leicht fallen. Denn bei 400 Millionen Wahlberechtigten zählt die eigene Stimme kaum. Und die Unterschiede zwischen den proeuropäischen Parteien waren kaum erkennbar.

Die Debatten zwischen dem SPD-Spitzenkandidaten Martin Schulz und dem Christdemokraten Jean-Claude Juncker liefen stattdessen darauf hinaus, dass beide Europa wollen, aber auch nicht zu viel davon. Diese Haltung von Leuten, die aus dem Brüsseler Apparat kommen, wirkte einfach nur aufgesetzt. Statt sich mit Leidenschaft gegen die europapolitischen „Störer“ aufzulehnen, haben sich die Proeuropäier mit ihrem Wischi-Waschi unglaubwürdig gemacht.

Die Entscheidung über Europas Zukunft ist mit dieser Wahl nicht gefallen: In Griechenland hat die explizit proeuropäische Partei To Potami („Der Fluss“) auf Anhieb den Sprung ins Europaparlament geschafft. Und zugleich kamen die Neonazis von „Chrysi Avgi“ auf den dritten Platz. Daraus kann alles werden.

Steinmeier selbst scheint sein Auftritt im Rückblick peinlich zu sein. Aber manchmal braucht ein Diskurs nicht nur Fakten. Die EU wird ohne leidenschaftliche Europäer nicht überleben.

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