Im letzten Jahr galt der Milliardär Xu Jiayin noch als drittreichster Unternehmer in der Volksrepublik China. Jetzt steht der Chef und Gründer der Evergrande Group vor dem Nichts. Mehr als 300 Milliarden Dollar an Krediten schiebt der Immobilienkonzern Xus vor sich her. Und nichts spricht dafür, dass der 62jährige die fälligen Darlehen in der nächsten Woche bedienen kann. Ob Evergrande in die Pleite rauscht oder mit neuem Geld rechnen kann, ist eine rein politische Entscheidung. Wahrscheinlich senkt oder hebt Staats- und Parteichef Xi Jinping höchstpersönlich den Daumen.
Der Niedergang von Evergrande bündelt wie in einem Brennglas alles, was in dem chinesischen Wirtschaftsmodell falsch läuft und von vielen westlichen Investoren oft übersehen wird. Xu konnte nur deshalb in 20 Jahren aus dem Nichts zum größten Immobilienentwickler Chinas aufsteigen, weil der skrupellose Unternehmer perfekt auf der Klaviatur des Staatskapitalismus spielte. Sein Unternehmen verschaffte sich mit Hilfe lokaler und oft korrupter Parteibürokraten billiges Bauland – zuerst in der Sonderzone Shenzhen, dann in der südchinesischen Metropole Guangzhou und schließlich im ganzen Land.
Die Staatsbanken finanzierten seine Projekte mit immer höheren Krediten zu besten Konditionen. 90 Prozent seiner Schulden gehen auf das Konto chinesischer Banken, weil ausländischen Kreditinstituten das Risiko zu hoch war. Xu konnte ein immer größeres Rad drehen, solange seine Eigentumswohnungen wie geschnittenes Brot an chinesische Käufer gingen, die oft mit allergeringstem Eigenkapital und hohen eigenen Krediten auf immer höhere und höhere Immobilienpreise setzten.
Fehlallokation von Kapital
Inzwischen aber steigen die Preise von Apartments schon lange nicht mehr in allen chinesischen Städten und viele Wohntürme stehen leer. Die chinesischen Banken und der Staatsapparat ignorierten diese Entwicklung lange, viel zu lange aus Angst vor politischen Erschütterungen, wenn es zu einem Crash auf dem Finanz- und Immobilienmarkt kommt. Doch nun geht es einfach nicht mehr weiter wie bisher und die Stunde der Wahrheit kommt – wenn nicht jetzt sofort, dann eben in ein paar Jahren.
Der chinesische Immobilienmarkt ist das beste Beispiel für das, was die Ökonomen Fehlallokation von Kapital nennen. In der Volksrepublik China fließen seit Jahren Milliarden in Projekte, die sich nicht rechnen und auch niemals rechnen werden. Das gilt zum Beispiel für die Chipindustrie, die nach dem Willen der Staatsführung um jeden Preis die Konkurrenz in den USA und auf Taiwan einholen soll. Viel zu viel Geld strömt seit Jahren auch in Dutzende von heimischen Autoherstellern, die nach dem Masterplan der Regierung unbedingt VW und Daimler überflügeln sollen. Man könnte diese Liste beliebig fortsetzen.
Die Fehlallokation von Kapital konnte den Boom über viele Jahre befeuern. Aber irgendwann werden eben auch in China die großen Abschreibungen fällig für all die Projekte, die keinen Sinn machen. Ginge es allein nach ökonomischem Kalkül, wäre eine Pleite von Evergrande durchaus ein vernünftiger Schritt. Doch in China ist die gesamte Wirtschaft letztlich eine politische Veranstaltung. Und der Tanz geht weiter, bis Xi Jinping die Musik stoppt.
Bernd Ziesemerist Capital-Kolumnist. Der Wirtschaftsjournalist war von 2002 bis 2010 Chefredakteur des Handelsblattes. Anschließend war er bis 2014 Geschäftsführer der Corporate-Publishing-Sparte des Verlags Hoffmann und Campe. Ziesemers Kolumne erscheint regelmäßig auf Capital.de. Hier können Sie ihm auf Twitter folgen.