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Kommentar Chinas Kampf um „Too Big to Fail“

Der Mischkonzern Evergrande steht kurz vor der Pleite
Der Mischkonzern Evergrande steht kurz vor der Pleite
© dpa
Die drohende Pleite des Immobilienkonzerns Evergrande führt China gefährlich nahe an einen „Lehman-Moment“. Selbst wenn es nicht so weit kommt: Noch nie war der Balanceakt für die Führung so heikel, Exzesse einzudämmen, ohne eine Finanzkrise auszulösen

steht China vor einem „Lehman-Moment“? Einer Pleite, die Banken in Schieflage bringt und erst Chinas und dann das globale Finanzsystem infiziert? Der Begriff „Lehman“ fällt dieser Tage immer wieder, wenn von China und dem Immobilienunternehmen Evergrande die Rede ist. Und der Streit unter Experten und China-Kennern zeigt vor allem eines: wie undurchsichtig und unkalkulierbar die Regierung in Peking nach wie vor ist, die seit Monaten parallel einen Feldzug gegen die eigene Tech-Industrie führt. „Chinas Führung kollidiert mit der wirtschaftlichen Realität“, warnte schon der US-Investor George Soros. Die Probleme von Evergrande „könnten einen Crash auslösen“. Von einem „Endgame um Evergrande“ spricht der Nachrichtendienst „Bloomberg“.

Die Frage ist also: Was ist in China „Too Big to Fail“?

Hintergrund ist eine Schieflage, die es in sich hat: Der Immobilienkonzern Evergrande kann nächste Woche voraussichtlich Zinsen nicht bedienen und pleitegehen. Auf dem 1996 gegründeten Unternehmen liegt eine astronomische Schuldenlast und Verpflichtungen in Höhe von 300 Mrd. Dollar. 90 Prozent dieser Schulden werden von chinesischen Banken gehalten. Allein in diesem Jahr muss Evergrande noch Zinszahlungen in Höhe von rund 670 Mio. Dollar leisten.

Evergrande ist ein Imperium, hinter dem der einst reichste Mann Chinas steht: Hui Ka Yan. Es hat nach eigenen Angaben 1300 Bauprojekte in 280 Städten betreut, fast 250 Tochterunternehmen, viele davon in Steuerparadiesen wie den Cayman Islands. Der Immobilienkonzern baut nicht nur Häuser und Wohnungen, er hat in einen Fußballclub investiert, in Themenparks, Medien, Konsumgüter wie Mineralwasser und Babymilch, sogar in Elektroautos. Evergrande New Energy Auto machte indes über 600 Mio. Dollar Verlust, auf der Messe in Schanghai gab es eine große Show und große Stände, Autos wurden nicht so richtig gebaut. Immerhin: 2020 soll der Gewinn des Konglomerats noch 4,7 Mrd. Dollar betragen haben.

Brandgefährlich für Chinas Machthaber

Seit Tagen demonstrieren wütende Anleger vor der Zentrale von Evergrande, denn schätzungsweise 70.000 bis 80.000 Menschen haben in das Bauunternehmen investiert, über Anleihen, Aktien und Finanzprodukte. Und nun fürchten Anleger um ihr Geld und Millionen Menschen um ihr künftiges Zuhause: Die Fläche unfertiger Immobilien, rechnet „Bloomberg“ vor, entspricht einer Fläche von drei Viertel Manhattans.

Auf dem ohnehin erhitzten Immobilienmarkt brodelt und kocht es, andere Immobilienentwickler und Bauunternehmen geraten unter Druck, in einem Sektor, der mehr als ein Viertel der chinesischen Wirtschaftsleistung ausmacht.

Das Ganze ist brandgefährlich und heikel für Präsident Xi Jinping. Denn einerseits ist es das erklärte Ziel der Führung in Peking, die oft heillos überschuldeten Unternehmen einzuhegen und zu bremsen, den Markt also ganz kapitalistisch zu bereinigen. Gleichzeitig haben Investoren aus aller Welt in China investiert, laut „Bloomberg“ eine Summe von über 500 Mrd. Dollar. Und viele beginnen ihr Kapital abzuziehen. Eine Eskalation, ein Flächenbrand, eben ein „chinesisches Lehman“ kann sich Peking nicht leisten – das Finanzsystem muss stabil bleiben.

Kann also die kommunistische Führung, die immer die Kontrolle behält, solche notwendigen Bereinigungsprozesse auch diesmal kontrollieren? Im westlichen Kapitalismus kennt man seit der Lehman-Krise für diese heiklen Situationen ein geflügeltes Wort: „when the music stops“, nach dem berühmten Zitat von Charles O. Prince III , einst CEO der Citigroup. Wenn die Musik aufhört zu spielen, springt im Westen der Staat ein, Regierungen und Notenbanken, sie müssen Banken stützen, retten, verstaatlichen, Geld ins System pumpen. Wir kennen das, leider, zur Genüge und Rettungen fast aus dem Effeff.

Lässt China Evergrande pleitegehen?

In China, so konnten wir bisher aus der Ferne beobachten, spielte die Musik immer weiter, durch alle Krisen hinweg – es gab zwar immer wieder schrille Töne, Trommeln und Trara, aber die Partei sorgte dafür, dass die Musik nicht aufhörte. Und aus dem Westen war nicht immer ersichtlich, wer was noch dirigiert und vor allem wer Teil des Orchesters ist.

Möglich wäre laut China-Kennern ein Mittelweg: Peking lässt Evergrande pleitegehen, versucht aber, die Folgen einzudämmen, damit keine Banken in Schieflage geraten – und die Bauprojekte fortgeführt werden können. „Kreditereignisse“, sagen die Analysten der Schweizer Bank UBS, „scheinen unvermeidlich“. Es wird also zu Ausfällen kommen.

Chinas Regierung hat schon früher nicht gezögert, in private Unternehmen einzusteigen. 2019 übernahm der Staat das erste Mal seit 20 Jahren mit der Baoshang Bank ein Kreditinstitut und stützte weitere Banken. Anfang 2020 nahm Peking den Mischkonzern HNA unter die Fittiche, der sich bei einer Einkaufstour rund um die Welt verhoben hatte und unter der Corona-Pandemie litt. Der Lehman-Moment, sagen deshalb manche Beobachter, sei eine westliche Projektion, China ticke anders.

Heikler Balanceakt

Über allem steht die Frage: Wieviel Schmerzen, Bereinigung, Verluste und Chaos lässt die kommunistische Führung diesmal zu? Und was davon liegt wirklich in ihrer Hand? „Wo Xi letztendlich die Grenze ziehen wird, bleibt ein Geheimnis“, schreibt „Bloomberg“.

„Die Schwierigkeiten“, urteilt die „Financial Times“, „kommen zum denkbar ungünstigsten Zeitpunkt.“ Denn strengere Vorschriften für den Immobiliensektor hindern Banken daran, neue Kredite an verschuldete Bauträger zu vergeben. China hat also eine ganz eigene mögliche Todesspirale geschaffen. Zudem schwächelt das Land ohnehin, das Wachstum leidet unter der Corona-Pandemie, unter immer neuen regionalen Lockdowns und dem Feldzug der Regierung gegen die übermächtigen Tech-Unternehmen.

Es ist also ein Balanceakt: Die Regierung will Exzesse eindämmen, aus einer großen Blase die Luft rauslassen, ohne den Wohlstand und die soziale Stabilität zu gefährden. Es ist kaum vorherzusagen, wie das Ganze ausgeht. Was sicher ist: Wir werden Zeuge einer neuen Blaupause, einer Krise und eines Krisenmanagements chinesischer Art, bei dem auch die Führung in Peking neues Terrain betritt.

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