Seit fast einem Jahr ist das Coronavirus Dauerthema in Politik, Medien und Alltag. Während zu Beginn der Pandemie vor allem über direkte gesundheitliche Bedrohung und wirtschaftliche Folgen diskutiert wurde, rückten mit der Zeit auch die psychologischen und soziologischen Auswirkungen in den Fokus. „Es ist so ein Ermüdung, ein Zersetzungsprozess,“ sagt der Psychologe Stephan Grünewald im Podcast „Die Stunde Null.“
„Beim ersten Lockdown gab’s noch eine Endlichkeitshoffnung. Und jetzt merkt man: Man hat nicht die Erfolgserlebnisse. Die Zahlen waren lange Zeit relativ stabil auf einem hohen Niveau und man hatte den Eindruck, man schränkt sich ein, aber das hat überhaupt keine Auswirkung.“
Der Gründer des Rheingold Instituts, der sich in seiner Arbeit schon lange mit der Gefühlslage der Deutschen befasst, hat untersucht, wie sich die gesellschaftliche Stimmung seit dem vergangenen Frühjahr verändert hat. Anders als während des erste Lockdowns, der noch „den Charakter eines abenteuerlichen Einbruchs in eine gewohnte Wirklichkeit“ hatte, mache sich nun zunehmend Erschöpfung und Resignation breit.
Trotz konstant hoher Infektionszahlen und Hygienevorschriften hätten die Menschen eine „Corona-Alltagsroutine“ entwickelt, so der Psychologe im Gespräch mit Horst von Buttlar. Viele hätten wieder angefangen, ihre Freunde zu treffen und zu umarmen. Statt einem großen Wocheneinkauf sei der Einkauf für viele nun das tägliche Highlight, um den immergleichen Corona-Alltag wenigstens kurz zu entkommen.
Selbst Gruppen, die sich im Frühjahr noch über die Entschleunigung und das „kollektive Innehalten“ freuten, klagen nun nach fast einem Jahr Corona über Erschöpfung und Mutlosigkeit. Dennoch seien manche Gruppen von der Pandemie besonders schwer betroffen. „Jugendliche fühlen sich viel stärker stillgelegt als die älteren Semester.“
Und: Es sei ein Unterschied, „ob ich jetzt auf zwei Zimmern stillgelegt bin oder ob ich ein großes Haus habe und alimentiert bin und dann relativ sorgenfrei zurückschalten kann.“ Entgegen der von Politikern gerne postulierten Solidarität und des Zusammenhalts in der Krise, beobachtet der Psychologe eine zunehmende gesellschaftliche Spaltung.
Für die Zukunft wünscht sich Grünewald mehr langfristige Strategien. „Viele Fragen sind noch nicht geklärt. Wenn wir da noch viel mehr Forschungsgeld investieren würden, wären wir auch in der Lage, effizienter einzugreifen.“ Regeln könnten konsequenter umgesetzt werden. „Ein Großteil der Bürger sagt: Noch weitere Verschärfungen, das macht überhaupt keinen Sinn, weil die bestehenden Regel werden überhaupt nicht monitored und sanktioniert,“ so Grünewald im Gespräch.
Die Diskussionen über einen noch schärferen Lockdown oder gar einen No-Covid-Ansatz sieht er kritisch. Er sei besorgt über einen neuen Fundamentalismus, über Probanden, die nach einem „China Diktat“ riefen. Trotz aller gesellschaftlicher Herausforderungen kann er der Zeit auch positives abgewinnen: „Als Psychologe merke ich, dass ich auch in einem ganz anderen Maße als Forscher gefragt bin und Zeuge werde einer Entwicklung, die einerseits beängstigend, andererseits auch faszinierend ist.“