Jetzt, da sich das Wirken des knallharten Automanagers Carlos Tavares dem Ende zuneigt, kriegt der Mann den Moralischen. „Man muss sich entscheiden, auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen“, sagt er auf dem Pariser Autosalon. Fünf, sechs Mal erwähnt er seine Kinder und Enkel: In deren Augen wolle er noch gucken können, daran hätten sich alle Mühen auszurichten. Über sie, über all die Kinder und Enkel seiner Zuhörer in einer Journalistenrunde, und darüber hinaus seiner Konkurrenten, der Politiker und wohl auch weiterer Kinder und Enkel sagt er: „Sie brauchen eine bessere Welt.“ Vor ihrem Urteil müsse sein Handeln Bestand haben. „Wir müssen den Gesellschaften, den Gemeinschaften dienen, das ist eine ethische Entscheidung“, ergänzt er.
Was ist da los? Der gebürtige Portugiese Tavares ist der Mann, der den Stellantis-Konzern mit großer Härte zum über lange Zeit profitabelsten Massenautokonzern geformt hat. 14 Marken gehören zu dem Hersteller, darunter Peugeot, Citroen, Jeep, Fiat, Opel und Maserati. Und dieser Mann redet nun nicht mehr von Renditen und Sanierungsdruck, von Markterfordernissen, sondern von den Gefahren des Klimawandels. Mit hoher Eindringlichkeit schildert Tavares dann die Fluten dieses Sommers, die Waldbrände, die Dürren, die Stürme. Erzählt, wie es in seiner portugiesischen Heimat bis zu 46 Grad heiß war. Wie seine Tochter mit dem Auto in ein Waldbrandgebiet geraten und ihre Türverkleidung zerschmolzen ist. „Was sagst du deiner Tochter da?“, fragt Tavares.
Der Auftritt ruft nach einer Erklärung. Was hat es zu bedeuten, wenn ein mit allen Wassern gewaschener Industriemanager plötzlich redet wie ein Aktivist? Hat ihn vielleicht tatsächlich eine Art Saulus-Paulus-Erlebnis erwischt in der Hitze des Sommers? Ist es Taktik? Oder bereitet er einfach einen guten Abgang vor – jetzt, wo die Welt laut einer Konzernmitteilung aus der vorigen Woche endgültig weiß, dass Tavares 2026 aufhört? Während der Verwaltungsrat unter dem Agnelli-Erben John Elkann schon einen Nachfolger sucht, will der abtretende Chef womöglich nicht nur als knallharter Kostenmanager und Sanierer in Erinnerung bleiben, sondern als jemand, dem es ernsthaft um die Zukunft des Planeten geht.
Tavares pocht auf die CO2-Ziele
Mit Bezug auf eine aktuelle Diskussion begann Tavares seine Einlassungen zur Klimakrise. Es ging um die CO2-Grenzen, die in der EU ab 2025 gelten. Um diese zu erreichen, müssen die Autohersteller deutlich mehr Elektroautos verkaufen – andernfalls drohen milliardenschwere Strafzahlungen. Das Ziel zu erreichen, aber scheint im Augenblick schwierig, weil die Nachfrage nach stromgetriebenen Autos in Europa nach unten geht anstatt nach oben. Manche in der Branche haben deswegen von der EU verlangt, die Grenzen aufzuweichen. Tavares aber ist ganz und gar dagegen. Vielleicht aus Sorge um das Klima. Aber auch, weil er glaubt, dass sein Konzern die Vorgaben schafft, was die Konkurrenten bezweifeln.
Wenn aber Tavares es wirklich als einziger schafft und alle anderen nicht, wie der Stellantis-Mann annimmt – dann fände er es hochgradig ungerecht, wenn die Regeln plötzlich nicht mehr gälten, das sagt er auch ganz klar. „Die Typen, die nicht fertig geworden sind“, empört er sich, „sollen wir das etwa einfach entschuldigen?“, ruft er. „Ist das fairer Wettbewerb?“ Nein, die Regeln müssten wie geplant in Kraft treten, wegen des Planeten, aber auch wegen der Fairness. Wenn dann die EU die Milliarden aus den Strafgeldern nähme, um Autokäufern neue Kaufsubventionen zu zahlen, dann wäre das viel besser.
Angefangen hat Tavares auf dem Autosalon wie gewohnt: Freistehend mit geballten Fäusten postierte er sich in einem Konferenzraum auf dem Messegelände – wie ein Boxer. Mit grimmiger Miene schritt er nach vorne. Je länger der Stellantis-Chef aber argumentierte, je mehr es um Enkel, Kinder und deren Welt ging, desto sanfter und offener wurde seine Körperhaltung. Sogar ein um Zustimmung heischendes Lächeln gestattete er sich.
Diese neueste Version des umstrittenen Managers lehrt einiges über ihn. Über die Wandlungsfähigkeit des Mannes, der – wie er sagt – bald 45 Jahre lang in dieser Branche verbracht hat. Über rhetorische Kniffe und wie man Geschäftsinteressen so vertritt, dass die Leute denken, es ginge um die Welt. Aber vor allem lehrt es, dass Tavares nicht in stiller Demut oder Wundenlecken verharrt, dass er nicht Deckung sucht – ganz im Gegenteil. Es lehrt, dass Tavares sich nicht wegduckt, dass er voll da ist, auch wenn er Schläge einsteckt.
Stellantis-Aktie stürzt ab
Denn das glanzvolle Bild des Wundermanagers hat Ende September Risse bekommen. Wegen schlechter Geschäfte musste Stellantis eine Gewinnwarnung verschicken. Das hatten zwar viele Autohersteller kurz zuvor auch schon gemacht. Die miserable Autokonjunktur verschont niemanden. Doch die Warnung von Stellantis hatte es in sich – statt zweistellig soll die operative Marge dieses Jahr nur noch 5,5 bis 7 Prozent erreichen. Sie bewegt sich damit etwa auf dem Niveau des großen Konkurrenten Volkswagen, dem Stellantis stets als leuchtendes Vorbild vorgehalten worden war. Die Zahlen offenbarten zudem tiefe strukturelle Probleme im wichtigen US-Geschäft. Der Aktienkurs, der der Malaise der Autoaktion lange Zeit weitgehend entkommen war, stürzte geradezu ab.
Ist das Investoren-Märchen zu Ende? War Tavares nur ein Blender? Sogar die Frage: Wird Stellantis bald wieder zerschlagen oder zumindest Marken wie Opel und Maserati abgestoßen? Manch einer in der Branche frohlockte schon über den vermeintlichen Sturz des Mannes der sie alle so lange qequält hat: Konkurrenten und Untergebene, Politiker und Gewerkschafter.
Seit der Verschmelzung der schwer strauchelnden Autobauer PSA und Fiat Chrysler zu Stellantis im Jahr 2020 ging ja dieses Märchen schon. Stellantis war das leuchtende Beispiel, wie man in schrumpfenden Märkten unter widrigen Bedingungen mit teilweise eher schwachen Marken mitten im transformationsgeschüttelten Automarkt dicke Gewinne erwirtschaften kann. Während zum Beispiel die Wolfsburger Sorgenkindmarke VW bei zwei, drei Prozent herumkrebste, erreichte Stellantis verlässlich zweistellige Werte. Es war das Beispiel eines Konzerns, der für schlechte Zeiten strukturiert war: Tavares legte die Produktionkapazitäten seiner Fabriken von vornherein so aus, dass sie auch bei schwacher Nachfrage noch profitabel waren. Das ging natürlich auf Kosten der Beschäftigten – rettete vermutlich aber einigen Marken, wie zum Beispiel Opel, das Leben.
So wurde Tavares zwar sehr umstritten in seiner Unerbittlichkeit, aber dennoch zum Modell. Keine Analystenkonferenz des VW-Konzerns verging, ohne dass sich Finanzchef Arno Antlitz fragen lassen musste, warum er sich nicht Tavares zum Vorbild nehmen würde. Und viele Konkurrenten bemühten sich auch genau das zu tun. Aber niemand tat es mit der Konsequenz von Stellantis. Niemand hatte auch die Mittel von Stellantis: So konnte Tavares etwa immer Arbeitervertreter und Regierungen in Italien, Frankreich, Spanien, Deutschland und Großbritannien gegeneinander ausspielen und alternativ Produktionsstätten in Osteuropa, der Türkei und Nordafrika bespielen. Und niemand musste aus solch großer Not agieren wie Tavares.
Tavares' Rückzug ist keine Überraschung
Fast zeitgleich mit der Gewinnwarnung vermeldete Stellantis einen weitreichenden Umbau in der Führung. Die Finanzchefin wurde ersetzt, ebenso die Verantwortlichen für Europa und Amerika. Gleichzeitig wurde mitgeteilt, dass Tavares sein bis 2026 laufendes Mandat nicht verlängert. Das war – im Gegensatz zu den anderen Personalien – eigentlich keine Überraschung. Intern hatte der CEO seinen Abgang schon in den guten Zeiten angedeutet. Und in der Branche war längst bekannt, dass der Konzern einen Nachfolger sucht.
Doch öffentlich konnte die Verbindung von Rückzug und Gewinnkrise dennoch wie das Eingeständnis eines Scheiterns aufgenommen werden. Ist das Modell Stellantis damit wirklich schon diskreditiert? Sicher, in vielen Märkten haben es Tavares und seine Leute zu weit getrieben. In den USA haben sie viel zu stark an der Preisschraube gedreht, so dass jetzt hunderttausende Autos wie Blei bei den Händlern stehen. In mehreren europäischen Ländern, darunter Deutschland, haben sie sich so sehr mit den eigenen Händlern angelegt, dass diese wenig Lust verspüren, Autos zu verkaufen. Und es gab auch Qualitätsprobleme. So verzögerte sich der Marktstart des neuen Citroen C3 – eigentlich ein wegweisendes Auto, weil das erste bezahlbare E-Fahrzeug aus Europa – wegen Softwaremalaisen beträchtlich. Auf Europa bezogen sagte Tavares jetzt in Paris: „Wir erbringen keine gute Leistung, wenn es darum geht, aus all den fantastischen Fahrzeugen, die wir haben, auch viel zu machen.“ Nämlich mit ihnen wie gewohnt Profit zu erzielen und entsprechende Aktienkurse.
Da ist er wieder, der alte Tavares. Es ist nicht ausgeschlossen, dass das neue Management die Probleme wieder in den Griff bekommt. Dass Stellantis im kommenden Jahr wirklich profitiert, wenn Tavares' Vorhersage eintrifft, und der Konzern die CO2-Ziele als fast einziger erreicht. Aber es ist auch denkbar, dass gerade aus Sicht der Investoren der Lack erst einmal ab ist, dass das Vertrauen dahin ist. Und Vertrauen, das sagt auch Tavares selbst in Paris, sei das wichtigste bei Kunden und Investoren.
Wie sieht der harte Boss nun seine Rolle in der aktuellen Krise? „Mein Freund“, sagt er und schweigt einen Moment. „Wenn glücklicherweise ein paar gute Sachen im Unternehmen passiert sind und dann passieren schlechte Sachen ...“ Er macht wieder eine Pause. „Dann zahlt man den Preis. Das ist die Regel der westlichen Welt“, sagt er. „Ich stehe hier, um die Schläge einzustecken.“ Das US-Desaster zum Beispiel – hätte er verhindern können. Er habe zwar seinen Leuten vor Ort die Entscheidung übrlassen, aber den umstrittenen Marketingplan auch vorher zu Gesicht bekommen. Der Chef trägt die Verantwortung, so ist es nun einmal.
Tavares steht da wie immer, dünne Briller, schmaler, dunkelblauer Anzug, mittelblaue Krawatte. 66 ist er jetzt, er sieht jünger aus. Aber er habe mit Frau und Kindern besprochen, dass mit 68 auch Schluss sein soll.
Gerecht? Ungerecht? Er gibt der Politik die Schuld, dass es so schlecht läuft bei der Umstellung auf E-Antriebe. Dass es für die Industrie so schwierig, so teuer sei und für die Beschäftigten so mühselig. Das sei vielleicht ungerecht, sagt Tavares. „Nicht für mich, sondern für meine Leute“, ergänzt er. „Ich bin ein alter Kerl, ich habe ein ausreichend dickes Fell, um all das zu ertragen“, fügt er noch hinzu. Vielleicht will er das nächste Jahr noch nutzen, um der Welt zu zeigen, dass er nicht gescheitert ist.
Dennoch, die Frage bleibt im Raum: Wie ernst ist es Carlos Tavares? Mit dem Klima? Man erinnert sich an die Messe in Paris hier vor zwei Jahren. Damals sagte auch er, die CO2-Regeln seien zu streng, man solle den Leuten ruhig noch ein paar Jahre ihre Verbrenner lassen, sonst gebe es Aufstände. Stellenweise klang er wie die hiesige Rechtspopulisten Marine Le Pen, die ähnliche Dinge vorbrachte. Heute nun der Aktivisten-Tavares. Er hat sich schnell gewandelt. Vielleicht ja wirklich unter dem Eindruck der Unwetter und es ist nicht die erste Wende in seiner Karriere. Andererseits: Die Position des Klimawarners unter den Automanagern war gerade vakant. Andere sind nämlich dem Zeitgeist gefolgt – der Posten war vakant.