Viele selbsternannte Experten beachten immer nur die China-Nachrichten, die sie sehen wollen. In der vergangenen Woche flirrten Dutzende von Meldungen durch die deutschen Medien, die sich mit dem Boom der Börse im südchinesischen Shenzhen beschäftigten. Auf dem zweitgrößten Aktienmarkt Chinas steigen die Kurse seit Jahresbeginn auf breiter Front – ausgelöst durch den chinesischen Durchbruch bei Künstlicher Intelligenz, der mit dem Namen Deepseek verbunden ist. Eine andere Nachricht aus Shenzhen ging dagegen völlig unter: Erstmals seit 1990 sinken die öffentlichen Einnahmen der Stadt – und das gleich um fast fünf Prozent.
Shenzhen steht wie keine andere Stadt für den beispiellosen Erfolg der chinesischen Wirtschaftsreformen. Wo 1980 nur 30.000 Menschen lebten, tummeln sich heute 17 Millionen. Die Supermetropole, die sich im Norden Hongkongs entwickelt hat, gehört zu den wichtigsten Exportzentren Chinas. Der Telekommunikationsriese Huawei regiert sein weltumspannendes Reich aus Shenzhen. Auch der E-Auto-Weltmeister BYD residiert dort. Mehr als zehn Prozent aller chinesischen Exporte gehen über die Kaianlagen und den Flughafen der Stadt ins Ausland. In den Entwicklungsplänen der chinesischen Regierung spielt Shenzhen eine zentrale Rolle, wichtiger noch als Schanghai oder Guangzhou.
Alles begann 1980 mit der Entscheidung des großen Reformers Deng Xiaoping, eine Wirtschaftssonderzone im Delta des Perlflusses zu errichten. Dem Pragmatiker schwebte eine Art Experimentierfeld für kapitalistische Lösungen im Sozialismus vor. Sollten sie für Erfolge sorgen, wollte Deng die Erfahrungen aus Shenzhen auf ganz China übertragen. Und genauso geschah es auch. Als nach dem Massaker auf dem Tiananmen-Platz in Peking 1989 ein eisiger politischer Wind durch ganz China wehte, reiste Deng demonstrativ nach Shenzhen und in Nachbarstädte, um klarzumachen: Die Wirtschaftsreformen gehen unvermindert weiter. Bei seiner Tour durch den Süden fiel auch die Bemerkung, die bis heute für den kapitalistischen Aufbruchsgeist Chinas steht: „Egal ob die Maus schwarz oder weiß ist, Hauptsache sie fängt Mäuse.“
Zölle treffen Shenzhen ins Mark
Nach dem Pro-Kopf-Einkommen steht Shenzhen heute auf Platz Eins in China – überflügelt nur noch von der ehemaligen britischen Kronkolonie Hongkong. Dass ausgerechnet diese Stadt nun eisern sparen muss, weil die Staatseinnahmen wegbrechen, wäre noch vor wenigen Jahren völlig undenkbar gewesen. Viele chinesische Provinzen stehen vor dem Bankrott – aufgehalten nur noch durch immer neue offene und verdeckte Kredite der Staatsbanken. Shenzhen gehört neben Schanghai und Chongqing zu den autonomen Städten, die wie Provinzen unmittelbar der Zentralregierung in Peking unterstehen.
Nun spüren diese Modelle der chinesischen Entwicklung zum ersten Mal seit Jahrzehnten auch wirtschaftlichen Gegenwind wie andere Provinzen. Und es könnte noch schlimmer kommen: Keine andere Stadt in China würde so unter den Zöllen leiden, die der amerikanische Präsident Donald Trump angekündigt hat. Insofern gleicht die kleine Meldung über die sinkenden Staatseinnahmen in Shenzhen einem Menetekel für ganz China.