Man kann zur Impfpflicht stehen, wie man will – man kann sie für überflüssig halten, für ein Gebot der Solidarität oder für medizinisch unerlässlich im Kampf gegen das Coronavirus. Über das Für und Wider hat das Land die letzten Monate gestritten, manchmal besonnen, häufiger sehr aufgebracht und hitzig. Ziemlich sicher werden diese Diskussionen sogar weitergehen, denn die unterschiedlichen Lager stehen sich ja weiterhin unversöhnlich gegenüber. Nur eine Erkenntnis dürfte unter Gegnern wie Befürwortern einer Impfpflicht nach dieser Woche ziemlich unbestritten sein: Olaf Scholz führt nicht, er tut nur so.
Zugegeben, die Gemengelage war vertrackt: Monatelang hatten Union und SPD im vergangenen Jahr erklärt, eine Corona-Impfung keinesfalls verpflichtend zu machen. Lieber wollte man mit Zahlen und Argumenten überzeugen. So lag der Vorwurf von Wortbruch und Lüge schon in der Luft, als sich Scholz Ende November – die vierte Infektionswelle rollte heran, aber wenigstens die Wahl hatte er gewonnen – endlich aus der Deckung traute: Er sei für eine Impfpflicht, etwa ab Ende Februar, Anfang März nächsten Jahres, sagte er. Und dabei schaute er ganz fest und mutig in die Kamera, so wie er es jetzt immer tut, wenn er Mutiges oder Ungewohntes zu verkünden hat. Wobei die Relativierung schon damals im nächsten Satz folgte: Nicht als Gesetzentwurf der Bundesregierung sollte die Impfpflicht kommen, sondern aus dem Parlament heraus. Jeder Abgeordnete sollte frei entscheiden können.
Oberschlaue Taktiererei
Nun ist Anfang April, und eine Impfpflicht ist am gestrigen Donnerstag in jeder möglichen Variante gescheitert. Die allgemeine ab dem 18. Lebensjahr hatten SPD und Grüne schon lange vorher vom Tisch genommen, stattdessen sollte es dann eine für alle Menschen ab 50 geben, und schließlich, als sich abzeichnete, dass auch dieser Vorschlag keine Chance haben würde, eine Impfpflicht wenigstens ab dem 60. Lebensjahr. Hätten die Abgeordneten noch ein paar Tage mehr Zeit bekommen, wäre die Altersgrenze wahrscheinlich auf 80 oder 90 hochgeschraubt worden.
Nicht nur die Abschlussdebatte gestern im Bundestag, der gesamte Prozess in den letzten vier Monaten war entwürdigend für alle Beteiligten und ein Musterbeispiel für oberschlaue Taktiererei gepaart mit mangelndem Führungswillen. Nach seiner ersten Ankündigung Ende November ließ Scholz Woche um Woche verstreichen. Dann, es war schon Januar, erklärte er sein Nichtstun zu „demokratischem Leadership“. Immerhin sei er es gewesen, der als erster eine Richtung vorgegeben habe, erklärte der Kanzler stolz und ironiefrei, nun sei es eben an den Abgeordneten, daraus ein Gesetz zu machen. Und verschwand wieder in den Berliner Kulissen. Seinen Gesundheitsminister Karl Lauterbach ließ er derweil herumfuhrwerken, solange, bis er weder vor- noch zurückkam.
Die Anhänger der Impfpflicht können nun die FDP geißeln, die praktisch komplett gegen jede Form der Impfpflicht votierte. Aber wenigstens blieben sich die meisten Liberalen mit dieser Haltung treu. Von Anfang an hatten Wolfgang Kubicki und Co erklärt, sie würden das Projekt auf keinen Fall mittragen. Man kann auch die Abgeordneten von CDU und CSU kritisieren, die bis in den Januar hinein eine Impfpflicht unterstützten, dann aber unter ihrem neuen Partei- und Fraktionschef Friedrich Merz den taktischen Nutzen einer Verweigerung erkannten. Das ist das Geschäft der Opposition, Scholz’ Niederlage ist Merz’ erster Sieg.
Scholz’ Blamage
Doch wie man es auch betrachtet, am Ende war es Scholz’ Initiative, Scholz’ Führungsanspruch, Scholz’ Nichtstun und auch Scholz’ Blamage.
Als ob er ahnte, dass kein Segen auf seiner Impfpflicht liegen würde, hielt er sich vollständig raus und ließ die Abgeordneten machen. Klar, es war auch so viel zu tun, tatsächlich verlor zudem die Pandemie mit Omikron einen Gutteil ihres Schreckens. Aber dann wäre es an einer souveränen Führungspersönlichkeit gewesen, zu sagen: Die Umstände haben sich geändert, ich habe meine Meinung geändert und könnte von mir aus auf eine Impfpflicht vorerst wieder verzichten. Tat er aber nicht. Der Kanzler verzichtete auch darauf, wenigstens im Hintergrund eine Allianz mit den Ministerpräsidenten von CDU und CSU zu schmieden, um so Druck auf die Unions-Abgeordneten und Merz auszuüben. Die Länderchefs waren nämlich bis zuletzt für eine Impfpflicht – wissen sie doch, dass es immer die Länder sind, die die Folgen der Pandemie spüren.
Scholz’ letzter aktiver Beitrag war es stattdessen, gestern Außenministerin Annalena Baerbock kurzfristig vom Nato-Treffen in Brüssel zurückzubeordern, damit auch ja keine Stimme der Befürworter von SPD und Grünen fehle. In der Gewissensentscheidung war dem Kanzler eine hoffnungslose Impfpflicht immer noch wichtiger als ein Land im Krieg – auch das ist eine Botschaft.
Das gestrige Ergebnis ist aus zwei Gründen verstörend: Nach mehr als zwei Jahren Pandemie steht Deutschland im April 2022 ungefähr so schlau da wie zu Beginn. Wir wissen, was gegen gefährliche Virusvarianten und hohe Infektionszahlen hilft: Lockdowns, Homeoffice, im Notfall Schulen dicht, alles Instrumente aus den ersten Tagen der Pandemie. Und dann ist da das Impfen. Der Impfstoff ist nicht perfekt, aber er schützt ziemlich zuverlässig vor dem Tod und besonders schweren Erkrankungen, immerhin. Nur, dass in Deutschland eben ein knappes Viertel der Bevölkerung eine Impfung ablehnt. Darauf haben Scholz und die Ampelkoalition keine Antwort gefunden – das ist bitter. Vor allem dann, wenn im kommenden Herbst eine aggressivere Virusvariante aufkommen sollte.
Simulation von Führung
Der zweite Grund hat tatsächlich mit Scholz selbst zu tun. Man erkennt langsam ein Muster, was Scholz unter der Führung versteht, die er so gerne als Anspruch vor sich herträgt. Wichtig scheint ihm zu sein, dass er am Ende der erste war, der etwas gedacht und gesagt hat. Wenn sich die Umsetzung zwischenzeitlich als schwierig erweist, hat er auch das kommen sehen. Weshalb es eben besonders klug von ihm war, dass er die Dinge durch Einmischen und das Gewicht seines Amtes nicht noch unnötig verkompliziert hat. Und dass er früh alle Widrigkeiten bedacht und Befürchtungen abgewogen hat. Frei nach Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung.
So ist es ihm möglich, heute zu sagen, dass er ja schon während der Koalitionsverhandlungen im vergangenen Herbst einen möglichen Krieg Russlands gegen die Ukraine mitgedacht habe. Keinesfalls sei er deshalb unvorbereitet in diesen Konflikt gestolpert, betonte er erst kürzlich in der ARD-Talkshow von Anne Will. Und so war er es auch, der schon immer für eine Diversifikation der deutschen Energieversorgung eingetreten ist, inklusive eigener Flüssiggasterminals an der deutschen Nordseeküste.
Komisch nur, dass man davon so wenig mitbekam. Dass es nach dem Einmarsch Russlands so quälend lange dauerte mit den deutschen Sanktionen und deutschen Waffenlieferungen. Oder dass wir eben doch immer noch und für lange Zeit von russischem Pipelinegas abhängen.
Es ist eher eine Simulation von Führung, eine Form des besonders schlauen Taktierens. Dass es jetzt eben doch keine Impfpflicht gibt, war somit streng genommen keine Niederlage oder das Ergebnis mangelnder Führung. Sondern im Gegenteil, es war Ausdruck seines Führungsverständnisses, das mögliche Scheitern immer gleich mitzudenken und auch darin einen höheren Sinn zu sehen. Man ahnt, was das bedeutet für die nächsten großen Vorhaben dieser Koalition, für die Energiewende oder für die große Zeitenwende, die Scholz in der Außen- und Verteidigungspolitik verkündet hat.